Die Verlorenen von New York
nicht der Grund, warum ich dich hergebeten habe.«
Alex wartete auf den nächsten Schlag – hatte man vielleicht endlich die Leiche seiner Mutter identifiziert? Aber Pater Franco überraschte ihn.
»Es geht um deine Schwester Briana«, sagte er. »Zur Abwechslung mal eine gute Neuigkeit.«
Alex versuchte zu lächeln. »Das wär schön«, sagte er.
»Nördlich von New York gibt es ein kleines Kloster«, sagte Pater Franco. »Ein wirklich bemerkenswerter Ort. Sechs Schwestern leben dort und bewirtschaften nebenher eine kleine Farm. Sie haben jetzt beschlossen, zehn katholische Mädchen bei sich aufzunehmen, für unbegrenzte Zeit. Die Mädchen sollen auf der Farm mithelfen, werden aber auch von den Schwestern unterrichtet – quasi eine Mischung aus Ferienlager und Internat. Die meisten Mädchen stammen aus Familien, die irgendeine Beziehung zu diesem Kloster haben, aber ich kenne zufällig eine der Schwestern und habe ihr gesagt, dass ich die perfekte Bewerberin für sie kenne. Ich war mir nicht sicher, wie alt Briana ist, aber ich habe einfach behauptet, sie sei fünfzehn und käme in die zehnte Klasse.«
»Sie wird nächsten Monat fünfzehn«, sagte Alex, der Mühe hatte, das alles zu begreifen. »Und im Herbst kommt sie in die zehnte Klasse, das stimmt.«
Pater Franco war offenbar sehr mit sich zufrieden. »Die Schwestern nehmen nur Mädchen auf, die eine katholische Schule besuchen, aber das dürfte ja kein Problem sein«, sagte er. »Briana geht doch auf die Holy Angels High School, oder?«
Alex nickte.
»Ausgezeichnet«, sagte Pater Franco. »Das freut mich sehr, nicht nur für dich und deine Familie, sondern auch für Briana. Ich weiß, dass sie einen sehr starken Glauben hat – vielleicht hilft ihr die Klosteratmosphäre ja sogar dabei, ihre Berufung zu entdecken? Aber selbst wenn nicht, so ist sie doch auf jeden Fall an einem sicheren Ort, und ihr habt eine Sorge weniger.«
»Nur Briana?«, fragte Alex, dem plötzlich klar wurde, dass er, wenn Briana fortging, mit Julie allein bleiben würde. »Könnten sie Julie nicht auch noch aufnehmen?«
Pater Franco schüttelte den Kopf. »Ich habe schon gefragt«, sagte er. »Aber Schwester Grace meinte, die Mädchen sollten mindestens vierzehn sein. Außerdem nehmen sie sowieso nur ein Mädchen pro Familie auf. Briana ist genau die Richtige dafür.«
»Danke, Pater«, sagte Alex. »Vielen Dank.« Es wäre bestimmt eine Erleichterung, wenn wenigstens Briana in Sicherheit war.
Pater Franco lächelte. So zufrieden hatte Alex ihn schon lange nicht mehr gesehen. »Der Bus, der die Mädchen zum Kloster bringt, fährt am Donnerstagnachmittag an der St.-Benedict-Kirche ab«, sagte er. »Ecke Madison Avenue und 112 th Street. Briana soll um eins dort sein und ihre Geburtsurkunde, ihr letztes Zeugnis und einen aktuellen Zahlungsnachweis über das Schulgeld mitbringen. Findest du das alles?«
»Ich glaub schon«, sagte Alex. »Meinten Sie kommenden Donnerstag?«
»Ja. Je eher, desto besser«, antwortete Pater Franco. »Stell dir nur vor, wie gut sie es haben wird: frische Landluft und Milch und Eier. Hier habe ich auch die Daten des Klosters für dich, Adresse, Telefonnummer und so weiter. Schwester Grace sagt, in den ersten vier Wochen sollten die Mädchen besser keine Anrufe bekommen, weil sie bestimmt alle Heimweh hätten, und damit kommen sie besser zurecht, wenn sie nicht ständig an zu Hause erinnert werden. Aber Briana ist dort bestens versorgt, das kann ich dir versichern. Wenn ihr euch das nächste Mal seht, ist sie bestimmt schon rund und rosig.« Er stand auf und gab Alex die Hand. »Ich werde weiter für dich und deine Familie beten«, sagte er. »Aber ich wage zu hoffen, dass wenigstens eines meiner Gebete erhört worden ist.«
»Ja, Pater«, sagte Alex. »Vielen Dank für alles.« Er verließ das Büro, ging dann in die Kirche, beugte vor dem Kreuz das Knie und suchte sich eine Bank, um zu beten.
Vater im Himmel, lehre mich, meine Verluste klaglos hinzunehmen, betete er. Und zeige mir, wie ich mit Julie in Frieden leben kann.
Mittwoch, 8 . Juni
Alex wartete ab, bis seine Schwestern zur Schule aufgebrochen waren, und ging dann ins Schlafzimmer seiner Eltern, um nach den Dokumenten zu suchen, die Bri benötigen würde. Am Abend vorher hatten sie keinen Strom gehabt, und da es ihm auch so schon unangenehm genug war, in den Sachen seiner Eltern herumzustöbern, wollte er das nicht auch noch im Schein der Taschenlampe tun. Außerdem durfte er nicht
Weitere Kostenlose Bücher