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Die Verlorenen von New York

Die Verlorenen von New York

Titel: Die Verlorenen von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Beth Pfeffer
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sagte er. »Aber in Zeiten wie diesen ist jede zusätzliche Mahlzeit ein Segen.«
    »Eine Tüte pro Person«, sagte Alex. »Das heißt, wenn Julie mitkommt, kriegt sie auch eine Tüte?«
    Pater Franco nickte. »Eine Tüte pro Familienmitglied«, sagte er. »Du solltest Julie auf jeden Fall mitnehmen.«
    Eine Tüte mit Lebensmitteln für jeden, plus fünf Mittagessen pro Woche. Dick und rund würden sie davon nicht werden, aber wenigstens mussten sie nicht hungern.
    Mittwoch, 29 . Juni
    Von den zehn Personen, die Alex aufsuchen sollte, lebten sechs in verschiedenen Wohnhäusern zwischen der Amsterdam und der West End Avenue und jeweils zwei in der 86 th und in der 87 th Street. Bloß gut, dass keiner im selben Haus wohnte wie Alex, denn je weniger Leute wussten, dass er und Julie noch da waren, desto besser.
    Die Arbeit war nicht allzu beschwerlich, bis auf die Tatsache, dass eine Frau im elften Stock wohnte und eine andere im sechzehnten und es vormittags so gut wie nie Strom gab. Alle hatten auch brav auf seiner Liste unterschrieben, und falls seine puertoricanische Herkunft sie überrascht oder beunruhigt hatte, so hatten sie es sich jedenfalls nicht anmerken lassen. Die meisten schienen einfach nur froh zu sein, dass sich überhaupt jemand die Mühe machte, die vielen Stufen zu ihnen hinaufzusteigen. Alex fragte nach, ob alles in Ordnung war und ob sie noch irgendetwas brauchten. Es war anstrengend, die ganze Zeit zu lächeln und interessiert zu wirken, vor allem, wenn die Leute gesprächig waren, aber für eine warme Mahlzeit nahm er das gern in Kauf.
    Julie war, wie sich zeigte, von der Gartenarbeit vollkommen begeistert und redete von nichts anderem mehr. Es herrschte einige Besorgnis darüber, dass es zum Pflanzen eigentlich schon zu spät war, aber ein Großteil des Gemüses war im Gewächshaus vorgezogen worden: grüne Bohnen, Mais, Tomaten, Kürbis, Zucchini, Kohl, Kartoffeln, Brokkoli. Löcher mussten gegraben, Dünger aufgebracht, Pflanzen eingesetzt und gewässert, Unkraut gejätet werden. Ringelblumen wurden gesät, um die Ratten fernzuhalten. Und jeder Sonnenstrahl, mochte es auch noch so heiß sein, wurde gefeiert.
    »Wir kriegen dann auch was davon«, sagte Julie zum dritten Mal in drei Tagen. »Kannst du dir das vorstellen? Richtiges Gemüse!«
    Nein, das konnte sich Alex nicht vorstellen. Aber es machte ihm trotzdem nichts aus, sich das Tag für Tag anzuhören. Dann musste er wenigstens nicht darüber nachdenken, was wohl in den Lebensmitteltüten drin wäre, die sie am Freitag bekommen sollten.
    Julie hatte abgenommen, das war nicht zu übersehen, aber er fragte sie nie, ob sie hungrig war, und wenn sie es war, so beklagte sie sich jedenfalls nicht. Genau genommen jammerte sie überhaupt viel weniger als früher, als alles noch normal gewesen war. Das hatte er wohl dem Mond zu verdanken.
    Donnerstag, 30 . Juni
    Nachdem Alex Julie zur Schule gebracht hatte, rannte er sofort wieder nach Hause zurück. Er wusste, dass es vollkommen hirnrissig war, neben einem Telefon zu sitzen, das kaum noch funktionierte, und auf einen Anruf zu warten, der niemals kommen würde, von einer Mutter, die wahrscheinlich längst tot war.
    Trotzdem tat er es, nur für alle Fälle. Für den Fall, dass seine Mutter an diesem letzten Tag, an dem es Queens noch gab, vielleicht doch noch anrufen würde, um ihrer Familie mitzuteilen, dass sie am Leben war. Er war froh, dass er Julie nichts davon erzählt hatte, sonst hätte sie bestimmt auch zu Hause bleiben wollen. So bekam wenigstens sie heute ein Mittagessen.
    Es war nicht leicht, so allein in der Wohnung zu sitzen und ein Telefon anzustarren, das nicht klingeln wollte, verfolgt von dem Gedanken an all die Nahrungsmittel in der Küche, die anzurühren er sich niemals gestatten würde, mehr aber noch von dem Bild seiner Mutter, wie sie gleich am ersten Abend in der U-Bahn ertrank.
    Er versuchte zu lesen. Er versuchte zu beten. Er machte Liegestütze. Er zählte die Konservendosen in der Küche. Er hörte Radio und verschwendete die Zwanzig-Dollar-Batterien. Die Welt ging unter, aber das war ja nun nichts Neues.
    Trotz der quälenden Langeweile tat es fast schon körperlich weh, die Wohnung zu verlassen, aber er musste Julie abholen. Draußen war es heiß und sonnig. Der abnehmende Mond wirkte fast größer als die Sonne. Wenigstens kein Vollmond, dachte Alex. Den hatte er inzwischen hassen gelernt.
    Julies heutiges Thema waren Insektizide, ihre Geschichte und ihre Verwendung.

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