Die Verlorenen von New York
Schwester Rita, die das Gartenprojekt leitete, war offenbar der Meinung, die Mädchen sollten auch gleich noch möglichst viel über die Nahrungskette lernen. Bloß gut, dass sie noch nicht bei den Rezepten angelangt war. Selbst mit einem Mittagessen im Bauch war es nicht leicht, ständig dieses Gerede über Gemüse zu ertragen. Und heute hörten sich sogar Motten und Blattläuse appetitlich an.
Sobald sie wieder in der Wohnung waren, hörte Alex den Anrufbeantworter ab – vielleicht hatte seine Mutter wundersamerweise doch noch eine Nachricht hinterlassen.
»Warum hast du das getan?«, fragte Julie.
»Weil ich Lust dazu hatte«, antwortete er pampig.
Julie sah ihn erstaunt an. »Du bist echt ein Spinner, weißt du das?«, fragte sie.
Alex nickte. »Weiß ich«, sagte er. »Das kommt, weil ich mit dir zusammenlebe.«
Julie grinste. »Na, dann bin ich wenigstens auch mal zu irgendwas nütze«, sagte sie. Sie verschwand in ihrem Zimmer und ließ Alex im Wohnzimmer allein, wo er weiter das Telefon anstarrte, und das Telefon starrte zurück.
SIEBEN
Freitag, 1 . Juli
Alex hatte die Nacht auf dem Sofa verbracht, für den Fall, dass das Telefon klingeln würde.
Um Viertel vor sieben gab er auf, zog sich an und weckte Julie. Sie hätte am liebsten immer bis mittags geschlafen, deshalb war sie nach dem Aufstehen meist ziemlich schlecht gelaunt. Alex hoffte, dass in den neuen Lebensmitteltüten, die er später mit nach Hause bringen würde, auch ein bisschen Müsli drin wäre. Ihres war fast alle, obwohl sie wirklich sparsam waren und er jedem nur eine halbe Tasse pro Tag zugestand.
Aber an diesem Morgen brachte Julie vor Aufregung sowieso keinen Bissen hinunter, und ihre Aufregung erwies sich als ansteckend. Es war ja nicht so, als hätte er wirklich noch ernsthaft mit einem Anruf seiner Mutter gerechnet, redete Alex sich ein. Und Lebensmittel waren wichtig. Hastig erledigten sie, was zu tun war, und verließen um halb acht das Haus, um noch vor acht an der Morse-Grundschule zu sein. Mehr als eine Stunde in der Schlange zu stehen wäre zwar ziemlich langweilig, aber sie wollten unter den Ersten sein, denn sie mussten die Tüten ja auch noch nach Hause bringen, und danach musste Alex Julie zum Central Park begleiten, seine eigene Runde machen und rechtzeitig zum Mittagessen in der Schule sein.
Sie liefen die Amsterdam Avenue hinunter, um dann an der 84 th Street nach Osten abzubiegen. Julie spekulierte darüber, was wohl in den Tüten drin sein würde.
»Am besten wäre natürlich frisches Gemüse«, sagte sie. »Aber darauf müssen wir wohl noch ein bisschen warten.«
»Mir ist alles recht«, erwiderte Alex. »Aber klar, euer Gemüse wäre natürlich das Beste.«
»Ich frage mich, was Bri wohl da oben anbaut«, sagte Julie. »Morgen ist ihr Geburtstag. Ob wir sie anrufen können?«
»Das dürfen wir nicht«, sagte Alex. »Keine Anrufe während der ersten vier Wochen.«
»Wenn sie hier wäre, würden wir drei Tüten bekommen«, sagte Julie.
»Ja, aber eine davon würde sie ja auch selber verbrauchen«, erwiderte Alex. »Also hätten wir trotzdem nicht mehr zu essen.«
»Wow!«, sagte Julie. »Sieh dir diese Schlange an.«
Alex hätte sie kaum übersehen können. Den ganzen Block von der 84 th bis zur 83 rd Street hinunter standen die Leute dicht an dicht in einer Schlange.
»Meinst du, die sind alle wegen der Tüten hier?«, fragte Julie.
»Da vorn steht ein Polizist«, sagte Alex. »Den fragen wir.«
Der Polizist stand an der Ecke 84 th Street und Amsterdam Avenue, ein Megafon in der Hand. »Einer nach dem anderen, nicht drängeln!«
Alex erinnerte sich an das Yankee-Stadion und fing an zu zittern. Aber er zwang sich zur Ruhe, schließlich war das hier eine völlig andere Situation, und fragte den Polizisten, wo sich das Ende der Warteschlange befand.
»An der 82 nd«, erwiderte der Polizist. »Das hieß es jedenfalls vor einer Viertelstunde.«
»Komm, beeil dich«, forderte Alex Julie auf. Sie rannten bis zur 82 nd Street, aber die Schlange zog sich noch weiter nach Süden hinunter.
»Wo kommen bloß all die Leute her?«, fragte Julie, als sie schließlich das Ende der Schlange an der Ecke 81 st Street und Columbus Avenue erreicht hatten.
»Sieht so aus, als hätte sich die gesamte Upper West Side versammelt«, sagte Alex. Den Eindruck konnte man tatsächlich bekommen. Anders als im Yankee-Stadion standen hier ganze Familien in einer Reihe hintereinander; einige Mütter hatten ihre
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