Die Verlorenen von New York
Mitschülerinnen beim eifrigen Unkrautjäten an. Julie lief zu Schwester Rita, die ihr den Arm um die Schulter legte und sie an sich drückte.
»Ich muss jetzt weiter, zur Vincent de Paul«, sagte Alex, ohne zu wissen, zu wem er das eigentlich sagte und ob es überhaupt jemanden interessierte. Er lief zur Westseite des Central Park zurück und dann nach Süden, in Richtung seiner Schule, wo er kurz vor Mittag eintraf.
Auf dem Weg zur Cafeteria wurde er jedoch von Pater Mulrooney aufgehalten. »Wo wollen Sie hin, Mr Morales?«, fragte er.
»Zum Mittagessen«, antwortete Alex. »Ach, Sie meinen wegen der Schnittwunde? Darum kümmere ich mich, wenn ich wieder zu Hause bin. Jetzt möchte ich erst mal was essen.«
»Das glaube ich gern«, sagte Pater Mulrooney. »Aber Sie haben nun schon seit zwei Tagen keine Unterschriftenliste mehr vorgelegt. Woher nehmen Sie dann das Recht auf ein Mittagessen?«
»Ein Recht habe ich vielleicht nicht darauf«, sagte Alex. »Aber ich habe Hunger und ich muss etwas essen.«
»Sie kennen die Regeln«, sagte Pater Mulrooney. »Keine Arbeit, kein Essen. Wenn Sie solchen Hunger haben, dann sollten Sie nach Hause gehen und dort etwas essen. Und am Dienstag brauchen Sie gar nicht erst wiederzukommen, es sei denn, Sie haben Ihre Besuche gemacht und können das anhand der Unterschriftenliste nachweisen. Gehen Sie jetzt, Mr Morales, und nutzen Sie das verlängerte Wochenende dazu, über die Tugend des Gehorsams nachzudenken.«
Alex hätte den Priester am liebsten am Kragen gepackt und gegen die Wand geschleudert. Er spürte, wie die anderen Schüler ihn anstarrten und nur darauf warteten, dass er es tat.
»Gehen Sie«, wiederholte Pater Mulrooney.
Alex zögerte. Wenn er sich jetzt widersetzte, würde er von der Schule fliegen. Dann konnte er das College vergessen, auch wenn es das vielleicht schon gar nicht mehr gab. Und seinen Abschluss auch, obwohl der sowieso keinen Wert mehr hatte. Keine Schule bedeutete auch kein Mittagessen an fünf Tagen pro Woche. Und kein Mittagessen an fünf Tagen pro Woche bedeutete den sicheren Hungertod.
»Entschuldigen Sie, Pater«, sagte Alex und ging davon.
Samstag, 2 . Juli
»Ich rufe jetzt bei Bri an«, sagte Alex. »Zum Teufel mit den Regeln.«
Julie starrte ihn an wie einen Fremden. Vielleicht wegen der Schnittwunde auf seiner Wange, dachte er. Damit sah er aus wie ein Pirat.
Er nahm den Hörer ab, nur um festzustellen, dass die Leitung tot war. Hätte er sich auch gleich denken können. Aber er hatte ja sowieso nichts Besseres zu tun, und so verbrachte er den Rest des Tages damit, alle Viertelstunde den Hörer abzunehmen, um auszuprobieren, ob das Telefon funktionierte.
Um Viertel nach vier hörte er dann tatsächlich das Freizeichen. Sorgfältig drückte er die Tasten und wurde mit dem Tuten am anderen Ende der Leitung belohnt.
»Notburga Farm.«
»Guten Tag, hier ist Alex Morales«, sagte Alex. »Meine Schwester Briana wohnt bei Ihnen.«
»Ja«, sagte die Frau am anderen Ende. Alex sah eine Nonne wie Schwester Rita vor sich, warm und herzlich.
»Sie hat heute Geburtstag«, sagte Alex. »Meine andere Schwester und ich, wir wollten ihr gern gratulieren.«
»Tut mir leid«, sagte die Frau. »Aber die Mädchen dürfen noch bis Ende nächster Woche keine Anrufe von Angehörigen erhalten. Wir schicken euch per Post einen Terminplan zu, auf dem unsere Telefonzeiten vermerkt sind.«
»Aber ihr Geburtstag ist heute«, protestierte Alex. »Wir machen es auch ganz kurz. Wir wollen ihr nur gratulieren und dann legen wir gleich wieder auf, versprochen.«
»Tut mir leid«, sagte die Frau. »Aber die Regeln dienen dem Wohl der Mädchen. Da können wir keine Ausnahme machen.«
Es klickte. Sie hatte einfach aufgelegt. Julie sah ihn an.
»Sie hat mich nicht mit ihr sprechen lassen«, sagte er. »¡Maldita monja!«
Julie klappte die Kinnlade herunter. Dann fing sie an zu kichern.
Aber Alex war nicht nach Lachen zumute. In Gedanken hörte er wieder Pater Mulrooneys Rat, er solle über die Tugend des Gehorsams nachdenken. Er holte schon aus, um Julie mit einer Ohrfeige zum Schweigen zu bringen, aber dann wurde ihm bewusst, was er gerade hatte tun wollen, und er stürmte aus der Wohnung. Erst an der Ecke 84 th Street und Columbus Avenue blieb er schließlich stehen, stellte sich vor die Morse-Grundschule und schleuderte dem leeren Gebäude lautstark Flüche entgegen.
Sonntag, 3 . Juli
Vor der Messe riet Pater Franco seinen Gemeindemitgliedern, von
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