Die Verlorenen von New York
dass Julie immer gleich einschlief, aber er selbst nutzte diese ruhige Zeit meist noch dazu, ein bisschen Radio zu hören – mit den wiederaufgetauchten Kopfhörern –, um auf dem Laufenden zu bleiben.
Es gab noch immer mehrere New Yorker Sender, aber Alex hörte lieber die aus Washington und Chicago, die man klar und deutlich empfing. Dass New York noch existierte, wusste er schließlich selbst, aber angesichts der schrecklichen Dinge, die überall passierten, war es tröstlich zu hören, dass es auch den Rest der Vereinigten Staaten noch gab, trotz West-Nil-Fieber und Erdbeben und Stromausfall und Lebensmittelknappheit. Er fand es beruhigend, wenn der Präsident eine Ansprache hielt und der Bevölkerung mitteilte, die Regierung setze alles daran, eine Lösung für all diese Probleme zu finden. Und an einem Abend hatte er ein Interview mit einem Astronomen gehört, in dem es darum ging, wie man den Mond wieder an seinen alten Platz zurückverfrachten könnte. Bisher war das noch reine Theorie, aber die besten Wissenschaftler der Welt arbeiteten daran. Irgendwann, dachte Alex, würden seine Gebete erhört.
»In New York City beginnt am kommenden Samstag die Zwangsevakuierung des Stadtteils Queens«, kündigte jetzt der Washingtoner Nachrichtensprecher an. »Am Freitag, dem 1 . Juli, soll dort die gesamte städtische Versorgung eingestellt werden.«
Alex drehte wie besessen am Stationsknopf, bis er einen der New Yorker Sender fand. Dort wurde offenbar von nichts anderem gesprochen. Adressenlisten wurden heruntergeleiert, Interviews mit Anwohnern und Beamten der Stadtverwaltung eingespielt, Protestaktionen geschildert. Es dauerte fast eine Stunde, bis Alex schließlich erfuhr, dass sämtliche Krankenhäuser in Queens bis spätestens Donnerstag, den 30 . Juni, geräumt werden sollten.
Alex wusste, wie abwegig der Gedanke war, seine Mutter könne immer noch im Krankenhaus St. John of God sein und dort den gesamten letzten Monat so schwer gearbeitet haben, dass sie nicht dazu gekommen war, ihre Kinder anzurufen. Aber solange es das Krankenhaus noch gab, gab es auch noch Hoffnung. In einer Woche sollte es nun geschlossen werden. In einer Woche würde es kein Queens mehr geben.
Ob es wenigstens Puerto Rico noch gab? Die Familie Morales? Gab es überhaupt noch Hoffnung?
Freitag, 24 . Juni
Alex hatte sich vorgenommen, an diesem Morgen auf jeden Fall noch kurz bei der Kirche vorbeizugehen, nachdem er Julie zur Schule begleitet hatte. In letzter Zeit hatte er nur selten auf das Schwarze Brett geschaut, in dem Glauben, dass er mit den abendlichen Berichten im Radio ausreichend informiert war. Aber wenn ihm dabei so etwas wie die Evakuierung von Queens entgehen konnte, musste er von jetzt an besser aufpassen.
Und tatsächlich, die Erzdiözese hatte ein Informationsblatt über Queens ausgehängt. Schon vor einer Woche, mit einer Liste sämtlicher Abfahrtszeiten und -orte der Busse, die die Einwohner zu einem Evakuierungslager in Binghamton bringen sollten, das etwa drei Stunden nordwestlich von New York lag. Von dort aus konnte dann jeder seine eigenen Pläne verfolgen.
Pater Franco kam mit einem ganzen Packen neuer Mitteilungen auf das Schwarze Brett zu. Alex begrüßte ihn.
»Wie geht’s euch?«, fragte Pater Franco.
»Ganz gut«, meinte Alex. »Wir können den Sommer über in der Schule bleiben, meine Schwester und ich.« Er fragte gar nicht erst, ob Pater Franco etwas Neues über Puerto Rico oder auch nur von Bri gehört hatte. Es hatte sowieso keinen Zweck.
»Du sollst der Erste sein, der es von mir erfährt«, sagte Pater Franco. »Wir haben die Nachricht auch erst heute Morgen erhalten. Ab kommenden Freitag, den 1 . Juli, werden in der Morse-Grundschule in der West 84 th Street kostenlos Lebensmittel verteilt.«
»Kein Scherz?«, fragte Alex.
Pater Franco grinste. »Priester machen keine Scherze«, sagte er. »Das lernt man gleich im ersten Seminaristenjahr. Die Ausgabe findet einmal pro Woche statt, und jeder, der sich anstellt, bekommt eine Tüte mit Lebensmitteln umsonst. Hier, lies selbst.«
Alex las, was auf dem Handzettel stand. Die Ausgabestelle würde jeden Freitag um neun Uhr öffnen. Dadurch würde er zwar die Morgenmesse verpassen, könnte aber trotzdem noch seine Aufgabe erledigen und rechtzeitig zum Mittagessen in der Schule sein.
»Wie viel ist da wohl drin, in so einer Tüte?«, fragte er. »Wissen Sie das?«
Pater Franco schüttelte den Kopf. »Sicher nicht genug für eine ganze Woche«,
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