Die Verlorenen von New York
und fand eine Rolle Müllbeutel. »Los, hier tun wir alles rein.«
»Die haben doch bestimmt einen Einkaufstrolley«, sagte Julie. »So einen, wie Mamá hat.«
»Und wo könnte der sein?«, fragte Alex.
Julie sauste zum Flurschrank und kam gleich darauf mit einem klappbaren Wägelchen zurück.
Alex fing an, die Konserven einzupacken: mehrere Büchsen Thunfisch, Lachs und Sardinen, zwei Gläser saure Heringe, jede Menge Dosenbohnen und Dosensuppen – die kamen ihm zwar jetzt schon zu den Ohren raus, aber irgendwann würde er sich bestimmt darüber freuen. Dazu noch ein paar Gläser mit Artischocken und Palmherzen.
»Cracker!«, rief Julie. »Und hier, Alex, Erdnussbutter! Und alle möglichen Sorten Marmelade!«
»Nicht so laut«, mahnte Alex, der gerade mehrere Packungen seltsam geformter Nudeln in eine Tüte stopfte. In den Unterschränken fand er zwei Sechserpackungen Mineralwasser, die er zuunterst in den Rollwagen legte.
»Brezeln!«, flüsterte Julie, als wäre ihr die Jungfrau von Orléans leibhaftig erschienen. »Pralinen!«
Alex hätte sich zwar gewünscht, dass reiche Leute weniger Pralinen und dafür mehr Dosengemüse essen würden, musste aber zugeben, dass der Anblick von so vielen Süßigkeiten ziemlich aufregend war. Er entdeckte noch eine Tüte Puffreis und eine Packung Cheerios und packte auch die mit ein. Keine sehr ausgewogene Ernährung, aber zumindest gehaltvoll.
Der Trolley war jetzt voll und die Schränke leer. Alex drückte Julie die Schlüssel zu ihrer Wohnung in die Hand. »Bring du die Sachen nach unten«, sagte er. »Ich seh mich schon mal in Apartment 11 F um. Sollte ich in einer halben Stunde nicht zurück sein, kommst du rauf und schaust nach, was los ist.«
» 11 F «, wiederholte Julie. »In einer halben Stunde.«
Alex brachte sie zum Fahrstuhl, der zwischendurch nicht benutzt worden war. Er überlegte kurz, ob er die drei Stockwerke mitfahren sollte, nahm dann aber lieber die Treppe.
Unten angekommen, klingelte er zweimal an der Tür von 11 F , bevor er sie aufschloss. Die Möbel im Wohnzimmer waren mit Tüchern abgedeckt, als sollten hier die Wände gestrichen werden.
Er schaute kurz in alle Räume, um sicherzugehen, dass die Wohnung leer war, ging dann in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Wieder schlug ihm der überwältigende Gestank verdorbener Lebensmittel entgegen.
Er hatte von Julie gelernt und kontrollierte als Erstes den Flurschrank, wo er tatsächlich einen Einkaufstrolley fand. Erfreut stellte er fest, dass die Bewohner von 11 F sich nicht zu fein dafür gewesen waren, eingemachtes Obst und Gemüse zu kaufen. Sie schienen eine besondere Vorliebe für Aprikosen und grüne Erbsen zu haben, und beim Anblick zweier großer Einmachgläser mit Apfelmus lief Alex das Wasser im Mund zusammen. Er hatte fast schon vergessen, wie gern er das aß.
Heute Abend gibt’s ein Festmahl, dachte er, und für einen Moment tauchte Bri vor seinem inneren Auge auf. Hätte er sie auch dann so eilig fortgeschickt, wenn er gewusst hätte, dass es noch Lebensmittel im Gebäude gab?
Ja, dachte er. Im Kloster war Bri trotz allem sehr viel besser aufgehoben. Was jetzt noch nach riesigen Vorräten aussah, würde allenfalls ein paar Wochen reichen. Letztlich tat er nichts anderes, als das Unvermeidliche ein bisschen weiter hinauszuschieben, auch wenn er nicht wusste, was dieses Unvermeidliche eigentlich war.
Er stopfte die restlichen Sachen in den Trolley und bedankte sich rasch bei 11 F und bei Gott für die Nahrung, die sie wieder ein wenig länger am Leben erhalten würde. Er zog den Trolley ins Treppenhaus und sah, dass Julie schon am Aufzug stand und die Türen offen hielt.
»Ich dachte, so geht’s schneller«, flüsterte sie.
Alex grinste sie an. »Du bist nicht nur niedlich, sondern auch schlau«, sagte er, und dann fuhren sie hinunter in ihre Wohnung, in der es wieder genug zu essen gab.
Montag, 20 . Juni
»Die Erzdiözese hat mich gebeten, den Schülern der St. Vincent de Paul Academy mitzuteilen, dass die Schule den ganzen Sommer über geöffnet bleiben wird«, kündigte Pater Mulrooney vor der Messe an. »Sollte das Streben nach Bildung keinen ausreichenden Anreiz darstellen, lässt die Erzdiözese wissen, dass weiterhin täglich ein Schulessen ausgegeben wird.«
Aufgeregtes Gemurmel ging durch die Reihen. Selbst Alex, der am Abend vorher noch Bohnen mit Schweinefleisch gegessen hatte, grinste übers ganze Gesicht. In letzter Zeit bestand das Schulessen zwar meist
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