Die Verlorenen von New York
hervor.
»Wahrscheinlich schon mehrere Tage«, sagte Kevin. »Komm, da drüben liegen auch noch ein paar. Vielleicht haben wir dort mehr Glück.«
Alex folgte Kevin zur Ecke 89 th Street und Riverside Drive.
»Siehst du, der Riverside Drive steht schon unter Wasser«, sagte Kevin. »So wird es bald in ganz New York aussehen. Und je nasser es in der Stadt wird, desto mehr trockene Schuhe werden gebraucht. Hey, das ist ja eine ganze Familie: Mama, Papa, Kind.«
Alex starrte auf sie hinunter. Das Baby war der Mutter aus den Armen geglitten und neben sie gerutscht. Der Vater lag quer über die beiden hingestreckt.
»Ich muss mich übergeben«, sagte Alex.
»Bitte nicht in meine Richtung«, sagte Kevin.
Alex riss sich den Mundschutz ab und wandte Kevin den Rücken zu. Er würgte heftig, obwohl er nichts im Magen hatte. Als er Kevins Hand auf seiner Schulter spürte, drehte er sich wieder zu ihm.
»Wenn wir ihre Schuhe nicht mitnehmen, tut es jemand anderes«, sagte Kevin. »Guck mal, die wurden alle erschossen. Ich wette, der Vater hat erst die Mutter und das Kind erschossen und dann sich selbst. Nett von ihm, das hier auf der Straße zu tun. Vielleicht hat er sie auch erst hierhergebracht und dann sich selbst erschossen. Ach, ist ja egal. Ich bin gespannt, ob wir die Babysachen loswerden. Ein paar Kinderklamotten hab ich schon mal eingetauscht, aber noch keine Babyschuhe. Booties nennt man die, oder?«
Alex erinnerte sich an Julie als Kleinkind. Ich tu das nur für sie, sagte er sich.
»Keine Mäntel«, sagte Kevin. »Aber guck mal hier. Papa hat eine nagelneue Pistole in der Hand.«
Alex starrte die Waffe an. »Willst du die eintauschen?«
Kevin schüttelte den Kopf. »Die kann man vielleicht noch mal brauchen«, sagte er. »Ist es in Ordnung, wenn ich die behalte?«
»Klar«, sagte Alex.
»Super«, sagte Kevin. »Dafür kannst du alle Schuhe haben. Ich nehm noch Papas Armbanduhr und du die von Mama.«
»Nenn sie nicht so«, sagte Alex.
»Was bist du denn so empfindlich?«, fragte Kevin. »Die sind doch eh tot. Ihre Seelen sind längst im Himmel oder in der Hölle oder wo auch immer. Wahrscheinlich sowieso keine Katholiken. Na los, nimm dir ihre Schuhe. Wird Zeit, dass du dich daran gewöhnst.«
Alex holte tief Luft und zog der Frau die Schuhe aus. Kevin löste die Schnürsenkel an denen des Mannes und zog sie ihm aus. »Das Baby übernehme ich«, sagte Kevin.
»Danke«, sagte Alex.
Kevin schüttelte den Kopf. »Du tust so, als hättest du noch nie eine Leiche gesehen. Was bist du denn, ein Tourist?«
»Ich weiß auch nicht«, sagte Alex. »Aber sie anzufassen ist schon was anderes.«
»Wir sind auch bald dran«, meinte Kevin. »Weißt du was? Wir machen uns jetzt die Füße nass und klappern noch ein paar Blocks ab. Und danach liefern wir den ganzen Kram ab. Wenn sich das erst mal alles in Brot und Fisch verwandelt hat, siehst du die Sache bestimmt schon anders.«
Alex bezweifelte, dass sich seine Meinung über Leichenfledderei jemals ändern würde, aber er folgte Kevin den Riverside Drive hinauf. Seine Schuhe platschten durchs Wasser und er spürte, wie er nasse Füße bekam. Es war kalt hier draußen, eine seltsame, unnatürliche Kälte, an die er sich nicht gewöhnen konnte.
»Meinst du, es wird irgendwann wieder warm?«, fragte er Kevin.
»In der Hölle ist es sicher schön heiß«, antwortete Kevin. »Mein Gefühl sagt mir, dass sich die 90 th Street heute lohnt. Siehst du? Sag ich doch.« Er bog in die Straße ein und rannte los.
Alex hatte ihn bald eingeholt. Der Tote hier war nicht so schlimm, nur ein alter Mann. »Er hat eine Brille«, sagte Alex. »Gibt’s dafür auch einen Markt?«
»Gute Frage«, sagte Kevin. »Wir nehmen sie einfach mit, dann werden wir ja sehen. Schöne Uhr. Kein Mantel, aber für diesen Pullover kriegen wir mit Sicherheit eine Dose Kochschinken. Komm, fass mit an.«
Alex nahm dem Mann die Brille ab und steckte sie in den Müllsack. Dann packte er den einen Arm des Mannes, Kevin den anderen, und gemeinsam zogen sie ihm den Pullover über den Kopf. Schließlich zog Alex ihm die Schuhe aus, während Kevin seine Taschen durchsuchte.
»Ein schlechter Tag für Brieftaschen«, sagte er. »Aber ansonsten ein recht lohnender Einkaufsbummel. Sollen wir das Zeug jetzt eintauschen?«
Alex nickte.
»Dann los«, sagte Kevin. »Vielleicht finden wir ja unterwegs noch ein paar Sachen.«
Aber die wenigen Leichen, an denen sie vorbeikamen, waren alle schon alt und
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