Die Verlorenen von New York
Mittagessen mehr bekam.
»Keine Ahnung«, schniefte Julie. »Ist mir auch egal. Ich wär sowieso am liebsten tot.«
»Nein, wärst du nicht«, wies Alex sie zurecht. »So etwas sagt man nicht. So etwas denkt man nicht einmal.«
»Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich denken soll«, sagte Julie, aber wenigstens hörte sie auf zu weinen. »Ich war so gern im Garten. Und der ist uns nur wegen dieser Kälte eingegangen. Eigentlich haben wir August, aber ich muss Wintermantel und Handschuhe anziehen, und in meinem Garten ist alles erfroren. Und ich hasse Leichen! Ich hasse sie!«
Alex konnte es ihr nicht verdenken. Sie waren gerade an einer vorbeigekommen, die nun schon seit einer Woche vor einer Pizzeria lag, völlig von den Ratten zerfressen. Zu Anfang, als die ersten Leichen auf den Straßen auftauchten, waren sie immer innerhalb eines Tages weggeschafft worden. Inzwischen war jedoch nicht mehr erkennbar, nach welchem Rhythmus oder System die Sanitätsmannschaften vorgingen. Immer mehr Menschen starben, aber die Fahrten zum Krematorium wurden weniger, und die Toten gehörten inzwischen zum Straßenbild. Gut fürs Leichen-Shopping, aber für sonst nichts.
»Wenn es im August schon so kalt ist, wie soll es da erst im Dezember werden?«, fragte Julie.
Alex zuckte die Achseln. »Keine Ahnung«, sagte er. »Vielleicht haben sie bis dahin einen Weg gefunden, die Asche aus der Luft zu filtern. Die Wissenschaftler arbeiten sicher schon daran.«
»Ich dachte, sie arbeiten gerade daran, den Mond wieder an seinen alten Platz zu verfrachten«, sagte Julie.
»Eins nach dem anderen«, sagte Alex.
»Ich hasse die Wissenschaftler«, sagte Julie. »Ich hasse die Kälte und die Vulkane und den Mond. Ich hasse einfach alles.«
Und Alex wies sie nicht zurecht, denn auch er empfand in diesem Moment nichts als grenzenlosen Hass.
Dienstag, 30 . August
Alex brachte Julie wie gewohnt zur Schule, aber statt sie dort abzusetzen und dann die übrig gebliebenen fünf Leute auf seiner Liste abzuklappern, suchte er Schwester Rita auf.
Wie alle anderen schien auch sie seit ihrer letzten Begegnung wieder gealtert zu sein. Ihr Blick war voller Trauer, und er begriff, dass der Verlust des Gartens sie genauso getroffen haben musste wie Julie.
»Entschuldigen Sie die Störung, Schwester«, sagte er. »Aber ich muss unbedingt wissen, ob die Mädchen hier auch weiterhin jeden Tag ein Mittagessen bekommen.«
»Soweit ich weiß, ja«, erwiderte Schwester Rita. »Jedenfalls bis auf weiteres.«
Alex lächelte. »Das sind gute Nachrichten«, sagte er. »Vielen Dank.«
Schwester Rita sah ihn lange und durchdringend an. »Deine Eltern sind nicht zurückgekommen, oder?«, fragte sie. »Julie spricht nicht darüber, aber du bist jetzt für sie verantwortlich.«
Alex nickte misstrauisch. »Wir kommen schon zurecht«, sagte er. »Briana ist in einem Kloster im Norden untergebracht, und Julie und ich haben genug zu essen. Bei mir in der Schule gibt es auch jeden Tag ein Mittagessen, das geht ganz gut.«
»Ich will mich gar nicht einmischen«, sagte Schwester Rita. »Und selbst wenn ich es wollte, selbst wenn ich der Meinung wäre, Julie wäre anderswo besser aufgehoben, könnte ich ihr nichts mehr anbieten. Keine Pflegefamilie, keine Wohngruppe, nichts. Zumindest nicht in der Stadt. Und Julie schlägt sich so tapfer, wie es unter diesen Umständen nur möglich ist. Sie ist ein aufgewecktes Mädchen. Fleißig. Du kannst stolz auf sie sein.«
»Bin ich auch, vielen Dank«, sagte Alex, obwohl ihm noch nie der Gedanke gekommen war, dass man auf Julie stolz sein könnte. Aber Schwester Rita hatte nicht ganz Unrecht. Julie war hart im Nehmen, und das war in diesen Zeiten ein echter Vorteil.
»Für New York ist dieser schwere Frost im August eine echte Katastrophe«, sagte Schwester Rita. »Ich fürchte, im Winter wird das ganze Land Hunger leiden müssen. Die ganze Welt. Und mit dem Hunger kommen die Seuchen. Wir gehen schlimmen Zeiten entgegen.«
Alex dachte an seinen Vater, der wahrscheinlich aufs Meer hinausgespült worden war, und an seine Mutter, die vermutlich in einem U-Bahn-Tunnel ertrunken war, und an seinen älteren Bruder, von dem keiner wusste, ob er jemals in Texas angekommen war, und an seinen Onkel an und seine Tante, die es vielleicht bis nach Oklahoma geschafft hatten, vielleicht aber auch nicht, und an seine eine Schwester, die im Norden bei fremden Leuten lebte, während die andere mit zwei kärglichen Mahlzeiten am Tag auskommen
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