Die Verlorenen von New York
Aber du fehlst mir so sehr. Ich weiß, dass das selbstsüchtig ist, und ich bete auch immer um Vergebung, weil es dir ja gut geht, mit den Ziegen und so, aber ich wünschte trotzdem, du wärst hier … Ja … Aber ich muss jetzt aufhören, sonst krieg ich Ärger mit Alex … Nein, eigentlich verstehen wir uns ganz gut. Manchmal lässt er mich beim Schach gewinnen … Ist gut, ich geb ihn dir.«
»Bei dir ist also alles in Ordnung?«, fragte er. »Du musst nicht hungern oder zu viel arbeiten oder so?«
»Nein, alles in Ordnung«, sagte Bri. »Und die anderen? Wie geht’s Onkel Jimmy und Tante Lorraine? Und habt ihr von Carlos gehört?«
»Wir haben gerade eine Postkarte von ihm bekommen«, sagte Alex. »Er ist jetzt in Texas.«
»Texas«, sagte Bri. »Na ja, wenigstens nicht ganz so weit weg wie Kalifornien. Und wie klingt er?«
»Du kennst doch Carlos«, sagte Alex. »Der klingt wie immer. Habt ihr denn auch Schule, oder müsst ihr den ganzen Tag auf der Farm arbeiten?«
»O nein, wir haben auch Schule«, sagte Bri. »Fast schon Einzelunterricht, wir sind ja nur zu zehnt. Wir stehen im Morgengrauen auf und machen die Hausarbeit, dann gehen wir in die Kapelle, und danach gibt’s Frühstück und dann wieder Farmarbeit. Nach dem Mittagessen haben wir ein paar Stunden Unterricht, und dann arbeiten wir bis zur Vesper wieder auf der Farm, danach gibt’s Abendessen. Aber nach dem Essen können wir uns unterhalten oder etwas spielen, und das ist immer sehr lustig. Manchmal singen wir auch. Ich weiß nicht, ob ich wirklich Nonne werden will, aber es könnte schon sein. Ich bete darum, weil Mamá sich so sehr darüber freuen würde. Wenn sie nach Hause kommt. Habt ihr immer noch nichts von ihr gehört? Und von Papá?«
»Nichts«, sagte Alex.
»Ich glaube trotzdem noch an Wunder«, sagte Bri. »Mit euch zu sprechen ist schließlich auch ein Wunder. Eines Tages wird wieder ein Wunder geschehen und Mamá und Papá werden nach Hause kommen.«
»An deinem Geburtstag haben wir versucht, dich anzurufen«, sagte Alex. »Wir denken ganz oft an dich.«
»Und ich an euch«, sagte sie. »Schwester Marie sagt, ich soll jetzt aufhören. Ich muss noch die Schafe versorgen.«
»Ist gut«, sagte Alex, obwohl er noch längst nicht auflegen wollte. »Nur eins noch, Bri. Wie ist das Wetter bei euch?«
»Irgendwie komisch«, sagte Bri. »Am Anfang war es sonnig und richtig heiß, aber vor einer Woche oder so wurde der Himmel ganz grau, und daran hat sich nichts geändert. Jeden Abend bitten wir den heiligen Medard, uns Sonnenschein zu bringen, denn ohne Sonne wachsen auch keine Pflanzen, und was soll dann aus uns werden? Aber bisher ist es grau geblieben.«
»Hier ist es genauso«, sagte Alex. »Also dann, Bri, wir rufen bald wieder an, versprochen. Mach’s gut. Wir haben dich lieb.«
»Ich hab euch auch lieb«, sagte Bri und legte auf.
Alex hielt den Hörer noch einen Moment lang in der Hand. Julie starrte auf Carlos’ Postkarte hinunter.
»Ob in Texas die Sonne scheint?«, fragte sie. »Vielleicht sollten wir dort hingehen, wenn Bri wieder da ist.«
NEUN
Montag, 1 . August
»Pass auf, eine Ratte«, sagte Alex zu Julie, als sie von der Holy Angels High School nach Hause gingen. Mit jedem Tag wurden die Toten zahlreicher und die Ratten fetter und dreister.
Julie machte einen Bogen um das Tier. »Schwester Rita weiß auch nicht, was wir machen sollen, wenn nicht bald wieder die Sonne rauskommt«, sagte sie.
»Dann sollte sie sich aber langsam was einfallen lassen«, sagte Alex. »Das kann dauern, bis die Sonne wieder scheint.«
»Um die grünen Bohnen mach ich mir wirklich Sorgen«, sagte Julie. »Die mag ich am liebsten. Lauren findet die Tomaten am besten, weil es so viele davon gibt, aber grüne Bohnen erinnern mich immer an den Sommer.« Sie lachte. »Eigentlich haben wir ja noch Sommer. Meinst du, im Kloster ist es auch so kalt?«
»Wahrscheinlich«, sagte Alex. »Wahrscheinlich wird es jetzt auf der ganzen Welt immer kälter.«
»Brittany – das ist meine neue beste Freundin – hat gesagt, ihr Vater hätte gesagt, nur die Starken würden überleben und alle anderen sterben, und dann wäre die Welt viel besser, weil es nur noch Starke gibt«, erzählte Julie. »Aber Lauren hat gesagt, die Sanftmütigen werden die Erde besitzen, nicht die Starken, und dann hat Brittany gesagt, die Erde würde doch eh keiner haben wollen, da könnten die Starken sie ruhig nehmen.«
»Und was meinst du?«, fragte Alex.
Doch
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