Die Verlorenen von New York
musste, und kam zu dem Schluss, dass Hunger und Seuchen seine geringste Sorge waren.
»Ich werd daran denken«, sagte er. »Vielen Dank, Schwester.«
»Alex«, sagte Schwester Rita und packte seinen Arm. »Hör mir zu. Was wir jetzt für unerträglich halten, ist harmlos im Vergleich zu dem, was vielleicht noch auf uns zukommt. Denk an Josef und die siebenjährige Hungersnot. Sein Volk hat nur deshalb überlebt, weil Josef alle auf das Kommende vorbereitet hatte. Noch kann uns die Erzdiözese mit Lebensmitteln versorgen, aber wenn die Ernte ausbleibt, wird es bald keinen Nachschub mehr geben. Vielleicht ist die Lage im Süden noch etwas besser. Vielleicht gibt es irgendwo auf der Welt noch einen sicheren Ort. Aber wenn ihr vorhabt, in New York zu bleiben, solltet ihr möglichst große Vorräte anlegen, denn die Lieferungen werden sicher bald eingestellt, und selbst versorgen können wir uns nicht mehr.«
Alex dachte an das Baby, das bei der Hungerrevolte totgetrampelt worden war. Das Bild ließ ihm bis heute keine Ruhe. Wenn so etwas schon an einem Tag passieren konnte, an dem wenigstens ein Teil der Leute Lebensmittel bekommen hatte, wie sollte es dann erst werden, wenn es überhaupt keine Lebensmittel mehr gab?
»Ich werde tun, was ich kann«, sagte er. »Und nochmals vielen Dank.«
Mittwoch, 31 . August
Nachdem Alex Julie zur Schule gebracht hatte, machte er seine Runde und lief dann zu St. Margaret’s, wo er ankam, als die Messe gerade vorbei war. Diesmal musste er nicht halb so lange warten wie noch im Sommer, bis er mit Pater Franco sprechen konnte. Weniger Menschen, weniger Probleme.
Er fragte gar nicht erst, ob Pater Franco Nachricht aus Puerto Rico erhalten hatte. Alex hatte schon vor Wochen aufgehört, Nanas Nummer zu wählen – noch lange bevor ihm das Telefon abgestellt worden war. Sein Vater war verschwunden, genau wie seine Mutter, genau wie Carlos und wie die Sonne.
»Ich habe schon länger nichts mehr aus dem Kloster gehört«, sagte Pater Franco entschuldigend. »Aber ich bin sicher, Briana geht es gut.«
»Deswegen bin ich nicht hier«, sagte Alex. »Es geht um Julie. Bislang kommen wir zurecht, wir haben ein paar Vorräte im Haus und in der Schule gibt es immer noch Mittagessen. Aber keiner weiß, wie lange das so bleiben wird, deshalb wollte ich fragen, ob es irgendeinen Ort außerhalb der Stadt gibt, wo man Mädchen in ihrem Alter unterbringen könnte. Sie wird bald dreizehn, und sie ist kräftig und kann hart arbeiten.«
»Du meinst, so etwas wie das Kloster für Briana?«, fragte Pater Franco. »Etwas Vergleichbares kenne ich nicht.«
»Es kann auch was anderes sein«, sagte Alex. »Für den Fall, dass es hier noch schlimmer wird. Die Kirche muss doch irgendetwas für Mädchen haben, ein Waisenhaus oder so.«
Pater Franco schüttelte den Kopf.
»Irgendetwas«, beharrte Alex. »Könnten Sie nicht mal bei der Erzdiözese anrufen und nachfragen?«
»Pass auf«, antwortete Pater Franco. »In den letzten drei Monaten hat sich die Kirche um die Toten und die Sterbenden gekümmert. Inzwischen sind nur noch zwei katholische Krankenhäuser in der Stadt geöffnet. Die kleineren Kirchen sind schon fast alle geschlossen, und wie mir mitgeteilt wurde, soll bis Ende des Jahres auch St. Margaret’s geschlossen werden. Ich bete nur noch darum, dass wir wenigstens bis Weihnachten geöffnet bleiben. Die Wohlfahrtsverbände haben auch alle längst zugemacht. Sämtliche Pflegekinder wurden schon im Juli aus der Stadt gebracht, und es werden keine neuen Kinder mehr angenommen. Auch die meisten Schulen werden im Herbst geschlossen. Im Inland gibt es einige staatlich geleitete Evakuierungslager. Das nächstgelegene befindet sich, soweit ich weiß, in Binghamton. Dort könntet ihr hingehen, Julie und du, aber allein würde ich sie lieber nicht hinschicken. Von dort aus müsstet ihr euch dann immer noch eine sichere Bleibe suchen.«
»Gibt es denn kein Kloster mehr, das Mädchen aufnimmt?«, fragte Alex. »Ich weiß, dass sie für eine Postulantin noch zu jung ist, aber es muss doch irgendwo ein Kloster geben, in dem sie unterkommen kann.«
»Es gibt doch kaum noch Klöster«, sagte Pater Franco. »Die an der Küste sind alle überflutet, und die im Inland werden von Erdbeben, Vulkanen und Seuchen heimgesucht. Es gibt keinen sicheren Ort mehr, Alex. Im Moment ist Julie bei dir noch am besten aufgehoben. Ich danke der Heiligen Jungfrau, dass wir wenigstens Briana rechtzeitig in Sicherheit bringen
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