Die Verlorenen von New York
voller Entsetzen an. Er schubste sie vor die Füße des Mannes.
»Alex, ich glaub, der lebt noch«, sagte Julie. »Der atmet noch.«
»Und wennschon«, sagte Alex. »Kann eh nicht mehr lange dauern. Zieh ihm die Schuhe aus.«
Julie bückte sich, um die Schnürbänder zu lösen. Alex nahm dem Mann die Armbanduhr ab und durchsuchte seine Taschen, fand aber nichts.
»Hilf mir mal bei dem Pullover«, sagte er. »Du den linken Arm, ich den rechten.«
Julie gehorchte und gemeinsam zogen sie dem Mann den Pullover über den Kopf. »Keine Brieftasche«, sagte Alex. »Aber für die Sachen hier kriegen wir bestimmt ein paar Dosensuppen.«
»Wovon redest du denn da?«, schrie Julie.
»Was glaubst du denn, was ich jeden Morgen mache?«, rief Alex. »Wie ich dafür sorge, dass wir genug zu essen haben?«
»Weiß Bri davon?«, fragte Julie.
»Nein«, sagte Alex. »Und du wirst es ihr auch nicht erzählen.«
Julie stand einen Moment lang wie erstarrt. »Willst du, dass ich mitkomme?«, fragte sie dann. »Morgens?«
»Nein«, sagte Alex. Warum sollte auch sie ihr Gewissen damit beladen?
Freitag, 16 . September
»So viel zu essen!«, rief Briana, als Alex die beiden Müllbeutel auf dem Küchenboden ausleerte. »Drei Tüten heute Morgen und jetzt auch noch das hier. Wo kommt das alles her?«
Für die drei Tüten hatten Alex, Julie und Kevin am Morgen fast fünf Stunden lang bei Minustemperaturen angestanden. Die Warteschlange war kürzer geworden, zugleich arbeiteten jedoch weniger Leute in der Ausgabe. Gegen zehn gab es niemanden mehr, der nicht hustete, aber keiner verließ seinen Platz. Kevin hatte Julie zur Schule gebracht, während Alex die Tüten nach Hause schleppte. Dann steckte er die vier Flaschen Wein, die er in Apartment 11 F gefunden hatte, in eine Tüte, dazu die Kiste Zigarren aus 14 J sowie den Mantel, die Armbanduhr und die Schuhe, die er auf dem Rückweg einer frischen Leiche abgenommen hatte. Die Uhr wollte Harvey nicht haben, weil angeblich keine Nachfrage mehr bestand, aber den Wein und die Zigarren hatte er gern genommen und gegen Lebensmittel eingetauscht. Wenn sie sparsam damit umgingen, würden die mindestens eine Woche lang reichen. Am meisten freute sich Alex über die beiden Dosen mit Thunfisch und Lachs. Zum Teufel damit, dass Vegetarier länger lebten.
»Wenn es noch so viel zu essen gibt, kann es doch gar nicht so schlimm sein«, sagte Bri, während sie die Vorräte in die Schränke räumte, die jetzt wieder gut gefüllt aussahen, fast wie früher. »Oh, seht mal! Eipulver! Das schmeckt fast so gut wie richtige Eier.«
»Gab es denn auf eurer Farm keine richtigen Eier?«, fragte Alex. Die Temperatur in der Wohnung lag bei ungefähr zehn Grad, denn darauf hatte er den Thermostat der Ölheizung eingestellt, aber seit Bri zurück war, kam ihm alles viel heller und wärmer vor.
Bri nickte. »Doch, am Anfang sogar jeden Tag«, sagte sie. »Aber irgendwann haben die Hennen kaum noch welche gelegt. Und die Kühe haben auch nicht mehr so viel Milch gegeben. Ich bete für die Schwestern und die Mädchen, die dort geblieben sind. Ich glaube, hier haben wir’s leichter.«
»Das habe ich auch gehört«, sagte Alex.
Bri wandte sich um und schaute ihren Bruder an. »Du darfst nicht aufhören, an Wunder zu glauben«, sagte sie. » La Madre Santísima hält ihre Hand über uns. Ich weiß das, weil ich jeden Abend zu ihr gebetet habe, dass ihr noch hier seid, wenn ich nach Hause komme.«
Alex dachte an all die Gebete, die er in den vergangenen vier Monaten gesprochen hatte und wie wenige davon erhört worden waren. Aber warum sollten Gott oder auch nur die Heilige Jungfrau seine Gebete erhören, wenn ihm eine Dose Thunfisch wichtiger war als die Leiden Christi?
Sonntag, 18 . September
Auf dem Weg zur Kirche strahlte Bri über das ganze Gesicht, und Alex wusste, dass es richtig gewesen war, sie zur Messe mitzunehmen. Obwohl sie ihren Mundschutz ablegen musste, um zu inhalieren, weil sie wieder Atemnot bekam. Für ihre Gesundheit wäre es vielleicht besser, wenn sie zu Hause blieb, aber ohne die Kirche hatte ihr Leben keinen Sinn.
Wie immer in letzter Zeit gingen seine Gedanken während der Messe ihre eigenen Wege. Wenn in den gesamten Vereinigten Staaten, und vermutlich auch auf der ganzen Welt, die Ernte ausblieb, weil die Sonne nicht mehr schien, wie lange würde dann New York wohl noch mit Lebensmitteln versorgt? Und wenn ihre Schulen geschlossen wurden, woher sollte er dann das Mittagessen
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