Die Verlorenen von New York
nehmen? Und wenn Kevin irgendwann keine Lust mehr hatte, sich freitags mit ihnen in die Schlange zu stellen, würden sie dann mit zwei Tüten auskommen?
Das waren noch die leichteren Fragen. Alex wollte lieber nicht darüber nachdenken, was geschehen würde, wenn das Heizöl alle war oder der Hudson irgendwann bis zur West End Avenue vordrang oder was er mit seinen Schwestern machen sollte, wenn sie New York verlassen mussten.
Genieße den Augenblick, ermahnte er sich selbst. Nimm dir ein Beispiel an Bri. Sieh dir an, wie glücklich sie ist. Und sie ist nicht dumm, sie weiß besser als du, wie zerbrechlich das Leben ist. Aber sie zieht Freude und Zuversicht aus dem Glauben. Kannst du das nicht auch?
Die Antwort lautete: Nein.
Montag, 19 . September
An diesem Morgen hatte Alex zu Julie gesagt, er könne sie erst später von der Schule abholen und sie solle auf ihn warten. Als der Unterricht vorbei war, ging er zu Pater Mulrooney.
»Ich möchte beichten«, sagte er.
Pater Mulrooneys Augenbrauen schnellten überrascht nach oben. »Mr Morales, es ist viele Jahre her, dass ich jemandem die Beichte abgenommen habe«, sagte er. »Sie können doch sicher auch bei Ihrem Priester in St. Margaret’s beichten.«
Alex schüttelte den Kopf. »Der wäre zu nachsichtig«, sagte er.
»Und einer der anderen Priester hier?«, schlug Pater Mulrooney vor.
»Nein, Pater«, erwiderte Alex höflich, aber bestimmt.
Pater Mulrooney zögerte einen Moment. »Na gut«, sagte er dann. »Ich nehme an, dieses Büro hat schon öfter als Beichtstuhl gedient.«
»Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt«, begann Alex. »Meine letzte Beichte liegt fünf Monate zurück.«
Pater Mulrooney nickte.
»Ich habe einen alten Mann zu Boden gestoßen«, sagte Alex. »Dann bin ich ihm auf die Hand getreten und habe ihm vielleicht die Finger gebrochen. Und ich habe nicht verhindert, dass ein Baby zu Tode getrampelt wurde. Nach allem, was ich weiß, bin ich für den Tod der beiden verantwortlich.«
»War es eine bewusste Entscheidung, dem Baby nicht zu helfen?«, fragte Pater Mulrooney. »Haben Sie den alten Mann in böser Absicht gestoßen?«
»Es war eine Massenpanik«, sagte Alex. »Ich habe überhaupt nicht nachgedacht. Hätte ich das Baby gerettet, hätte ich vielleicht meine Schwester verloren. Und ich hätte sie ganz sicher verloren, wenn ich den alten Mann nicht zu Boden gestoßen hätte. Insofern war es schon Absicht, aber vielleicht keine böse. Aber das war nicht meine einzige Sünde, bei weitem nicht. Ich bestehle die Toten. Ich raube sie aus und tausche ihre Sachen gegen Lebensmittel ein. Meine Schwester habe ich auch schon mal dazu gezwungen. Inzwischen ist es mir sogar egal, ob sie schon tot sind, Hauptsache, ich kann uns etwas zu essen beschaffen. Und ich tue es nicht nur für meine Schwestern. Ich esse auch meinen Teil.«
»Sind Sie wütend auf Gott?«, fragte Pater Mulrooney.
»Nein«, erwiderte Alex. »Ich wünschte fast, ich könnte es sein. Das ist so ähnlich wie bei meinen Eltern und meinem Bruder. Sie sind alle verschwunden. Carlos ist wahrscheinlich noch am Leben, aber nicht einmal das weiß ich mit Sicherheit. Manchmal, wenn ich an sie denke, werden mein Schmerz und mein Zorn so groß, dass ich es nicht mehr ertragen kann. Dann schalte ich meine Gefühle ab. Ich höre einfach auf zu fühlen. Genauso geht es mir mit Gott. Früher habe ich gebetet und es auch wirklich so gemeint, aber heute sind das alles nur noch leere Worte für mich. Weil ich Angst habe, dass es mich umbringt, wenn ich den Schmerz und die Wut wirklich an mich heranlasse. Oder dass ich jemand anderen umbringe. Ich weiß, dass meine Gefühle für Gott nicht richtig sind und dass es nicht richtig ist, gar nichts mehr zu fühlen. Ich hasse das. Aber es nicht Gott, den ich hasse. Eher hasse ich es, dass ich ihn nicht lieben kann.«
»Man müsste wohl ein Heiliger sein, um Gott unter diesen Umständen zu lieben«, sagte Pater Mulrooney. »Und in all den Jahren, die ich an dieser Schule unterrichtet habe, ist mir noch kein siebzehnjähriger Heiliger begegnet. Wenn es irgendetwas gibt, wofür Sie sich schuldig fühlen sollten, Mr Morales, dann ist das Ihr Stolz. Ihr Leid ist nicht größer als das aller anderen Menschen und Ihre Schuld erst recht nicht. Sie sind ein junger Mann, der sich hohe Ziele gesetzt hat und viel dafür getan hat, diese Ziele zu erreichen. Dafür gebührt Ihnen Respekt, und ich wünschte, ich hätte mehr solche Schüler wie Sie. Aber
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