Die Verlorenen von New York
essen.«
»Wisst ihr noch, wie Mamá vor ein paar Jahren Papá diese vielen Lotterielose geschenkt hat?«, fragte Alex, weil er nicht mehr an gefüllten Truthahn und Kürbiskuchen denken wollte und an all die anderen Dinge, für die sie nicht dankbar sein mussten.
»Eins von ihnen hat gewonnen«, sagte Bri. »Fünfzig Dollar.«
»Und dann ist er mit uns allen ins Kino gegangen«, sagte Julie. »Sogar Carlos ist mitgekommen.«
»Ob wohl immer noch Filme gedreht werden?«, fragte Bri.
»Ich glaub nicht«, antwortete Alex. »Wo doch die gesamte Westküste überflutet sein soll.«
Julie guckte verlegen. »Ich hab noch ein paar Lotterielose«, sagte sie.
»Wo hast du die denn her?«, fragte Alex.
»Aus der Bodega«, gestand Julie. »Weißt du noch, wie ihr mich da allein gelassen habt, Onkel Jimmy und du? Ich hab die ganze Zeit Lebensmittel für uns eingepackt, aber dann habe ich mir ein paar Rubbellose abgerissen und in die Tasche gesteckt.«
»Julie«, sagte Bri. »Das ist Diebstahl.«
»Ich hab’s schon gebeichtet und Buße getan«, sagte Julie. »Und selbst, wenn ich wollte, könnte ich Onkel Jimmy die Lose nicht mehr zurückgeben.«
»Hast du sie denn schon aufgerubbelt?«, fragte Alex. »War ein Gewinn dabei?«
Julie schüttelte den Kopf. »Ich wollte sie für Weihnachten aufbewahren«, sagte sie. »Aber vielleicht wäre heute eine bessere Gelegenheit, weil doch Papás Geburtstag ist und weil er Lotterielose immer so gernhatte.«
»Können wir sie nicht gleich jetzt freirubbeln?«, fragte Bri. »Weihnachten ist noch so lange hin.«
»Warum nicht«, sagte Alex. »Los, Julie, hol sie her.«
Julie rannte ins Schlafzimmer und kam mit den Losen zurück.
»Wie viele sind es?«, fragte Alex.
»Siebenundzwanzig«, antwortete Julie.
Alex lachte. »Neun für jeden von uns«, sagte er. »Okay, hier hast du einen Penny zum Rubbeln, Julie, und hier ist einer für Bri und einer für mich. Mal sehen, ob wir bald reich sind.«
Bri kreischte gleich beim ersten: »Fünf Dollar!«
Alex rubbelte und rubbelte, konnte aber nichts vorweisen.
Nur Julie rang plötzlich nach Luft und bekreuzigte sich. »Wir sind reich«, sagte sie. »Guck doch mal, Alex.«
Alex nahm ihr das Los aus der Hand. Er traute zunächst seinen Augen nicht und reichte es an Bri weiter.
»Zehntausend Dollar?«, sagte diese.
Alex nahm es ihr wieder weg und betrachtete es noch einmal genauer. »Zehntausend Dollar.«
»Damit kommen wir von hier weg, oder, Alex?«, fragte Julie. »Mit zehntausend Dollar können wir doch eine Fahrkarte kaufen und irgendwohin fahren, oder?«
Alex blickte noch einmal auf das Los. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal gesehen hatte, dass Geld verwendet worden war; das musste aber nicht heißen, dass es keins mehr gab. Die Regierung gab es auf jeden Fall noch und sie schuldete dem Eigentümer dieses Loses zehntausend Dollar. Die Frage war nur, was zehntausend Dollar heutzutage überhaupt noch wert waren.
»Vielleicht sollten wir Kevin fragen?«, meinte Julie.
Aber das wollte Alex lieber nicht – aus dem gleichen Grund, wie er ihm nichts davon erzählt hatte, dass er mit Schnaps und Zigarren handelte. Einige Dinge behielt man besser für sich. »Vielleicht kann Harvey uns weiterhelfen«, sagte er. »Aber wir sollten uns keine großen Hoffnungen machen.«
»Könnten wir für das Los nicht lieber Lebensmittel eintauschen?«, fragte Bri. »Richtiges Essen? Und ganz viel? Dann müssten wir doch gar nicht weg von hier.«
»Ich will aber weg«, sagte Julie. »Und es ist mein Los. Ich habe es mitgenommen und es war in meinem Stapel und ich darf bestimmen, was wir damit machen.«
»Aber was werden Mamá und Papá denken, wenn wir nicht mehr hier sind?«, fragte Bri. »Oder Carlos? Wie sollen sie uns finden, wenn wir einfach verschwinden?«
»Das ist jetzt sechs Monate her!«, schrie Julie. »Die sind doch längst tot. Und Carlos vielleicht auch. Ich werde nicht hierbleiben und sterben, nur weil ich darauf warten muss, ob sie vielleicht zurückkommen. Du kannst ja hierbleiben, wenn du willst, aber ich gehe.«
Bri fing an zu husten.
»Wo ist der Inhalator?«, fragte Alex und schaute sich suchend um.
»Schlafzimmer«, presste Bri hervor.
Alex rannte ins Schlafzimmer und griff nach dem Inhalator auf Bris Nachtschrank. »Den sollst du doch immer dabeihaben«, schrie er und widerstand der Versuchung, ihn ihr an den Kopf zu werfen.
Bri nahm einen tiefen Atemzug und ihr Husten ließ nach. »Tut mir leid«,
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