Die Verlorenen von New York
und rannte hinaus.
»Julie!«, rief Alex hinter ihr her. »Tut mir leid, Harvey«, sagte er dann. »Mädchen in dem Alter … Für die bricht immer gleich eine Welt zusammen.«
»Wie alt ist sie denn?«, fragte Harvey.
»Dreizehn«, antwortete Alex.
Harvey nickte. »Teenager«, sagte er. »Hier, nimm die Ananas mit. Ich muss verrückt sein, in Zeiten wie diesen irgendwas zu verschenken, aber wenn’s ihr dann besser geht, ist es mir die Sache wert.«
»Vielen Dank«, sagte Alex und nahm die Dose. »Das ist wirklich nett von Ihnen.«
»Schon gut«, antwortete Harvey. »Sehen wir uns morgen? Ich erwarte wieder eine schöne Lieferung.«
Alex dachte an seine schwindenden Vorräte an Schnaps und Pullovern und nickte. »Später Vormittag«, sagte er. »Nach der Lebensmittelverteilung.«
»Die beste Zeit«, sagte Harvey. »Ich leg dir was zurück.«
»Nett von Ihnen«, sagte Alex. »Und nochmals vielen Dank für die Ananas. Nehmen Sie’s Julie nicht übel. Sie hatte sich solche Hoffnungen gemacht.«
»Sind nun mal harte Zeiten«, sagte Harvey. »Ist sicher nicht leicht, so eine kranke Schwester zu versorgen.«
»Nein«, sagte Alex. »Ist es nicht. Also dann, bis morgen, und nochmals danke.« Er trat aus dem Laden, aber Julie war nirgends zu sehen.
Idiota , dachte Alex. Einfach so wegzurennen. Kaum ging es mal nicht nach ihrer Nase, machte sie gleich eine Riesenszene. Am liebsten wäre er einfach zur Schule gegangen und hätte sie sich selbst überlassen. Sollte sie doch nach Hause rennen und die Türen knallen. Bri würde schon mit ihr fertigwerden. Oder noch besser: Er und Bri würden sich später die Ananas teilen und Julie nichts davon abgeben. Das geschähe ihr recht.
Alex schüttelte den Kopf. Das Zusammenleben mit einer Dreizehnjährigen schien allmählich abzufärben – jetzt dachte er sogar schon wie eine. Natürlich musste er nach ihr suchen. Sie war mit Sicherheit Richtung Norden gegangen, ob sie nun zur Schule oder nach Hause wollte. Er würde sie einholen und ihr erst mal eine Standpauke halten, was ihr einfiel, einfach so wegzulaufen. Und heute Abend würden sie alle zusammen die Ananas essen. Danach würde es ihnen sicher gleich besser gehen.
Er war so sehr an die Stille in den Straßen gewöhnt, dass er das Geräusch im ersten Moment gar nicht erkannte. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber es war eindeutig ein Mädchen, das da schrie, und ihre Stimme war voller Angst.
Sein erster Impuls war, sofort loszurennen, denn ihm war klar, dass das Julie war und dass jemand sie überfallen hatte. Aber was würde es nützen, wenn er jetzt einfach hinrannte? Wer auch immer Julie in seine Gewalt gebracht hatte, war vielleicht bewaffnet, und selbst wenn er es nicht war, fühlte Alex sich nicht in der Verfassung für einen offenen Kampf. Es waren keine Polizisten in der Nähe. Zum Teufel, es war überhaupt niemand in der Nähe, außer Leichen und Ratten. Und dem Typen, der seine Schwester geschnappt hatte.
Alex streifte die Schuhe ab, um möglichst wenig Geräusche zu machen, und rannte dann in Richtung der Schreie. Auf der 91 st Street entdeckte er einen kräftigen Mann, der Julie, die sich wie eine Furie wehrte, zum Rand des Central Park hinzerrte.
»Lassen Sie mich los!«, schrie sie.
Der Mann lachte. »Hier ist niemand«, sagte er. »Hat keinen Sinn, sich zu wehren.«
»Alex!«, schrie sie. »Alex!«
Der Mann lachte nur noch lauter.
Hinter seinem Rücken schlich sich Alex immer näher heran.
Jetzt versuchte Julie, den Mann zu treten. »Hilfe!«, schrie sie. »Warum hilft mir denn keiner!«
»Du gehst mir echt auf den Geist«, sagte der Mann. »Aber das wirst du mir bezahlen.«
Alex hatte das Gefühl, so nahe herangekommen zu sein, wie er konnte, ohne bemerkt zu werden. Er hatte nur einen Wurf frei und der musste sitzen, denn vom Kragen abwärts war der Mann durch einen dicken Wintermantel geschützt. David und Goliath, dachte Alex, und dann schleuderte er dem Kerl mit aller Kraft die Dose Ananas an den Kopf. Volltreffer. Der Mann heulte auf und ließ Julie los.
»Lauf, Julie!«, brüllte Alex.
Julie fuhr herum und rannte los, so schnell sie konnte. Der Mann bückte sich und hob die Dose auf.
»Nächstes Mal«, sagte er.
Alex fasste Julie an der Hand und rannte mit ihr zum Broadway zurück. Der Mann folgte ihnen nicht, aber sie rannten trotzdem immer weiter. Als sie schließlich ihr Haus betraten, husteten sie so stark, dass sie sich erst einmal ein paar Minuten hinsetzen mussten, um zu
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