Die Verlorenen von New York
antwortete Harvey. »Sag mir nur, wann du das kleine Biest vorbeibringst, dann sorge ich dafür, dass der Wagen hier wartet, und ihr könnt von hier aus deine andere Schwester abholen. Ihr habt wirklich ein Riesenglück, Alex. Du und deine kranke Schwester, ihr werdet dort bestens versorgt, und um das kleine Biest braucht ihr euch auch keine Sorgen mehr zu machen. Ich darf zwar keine Namen nennen, aber der Typ, der sie haben will, hat erstklassige Beziehungen.«
Alex starrte Harvey an. »Soll das heißen, ich müsste Julie dafür verkaufen?«, fragte er. »Sie ist meine Schwester.«
»Na und?«, fragte Harvey. »Du hast doch noch eine davon.«
Alex hätte Harvey am liebsten an der Gurgel gepackt und so lange gewürgt, bis ihm seine verrotteten Zähne aus dem Mund fielen. Aber ohne Harvey würden sie wahrscheinlich verhungern.
Er verzog die Lippen zu etwas, das, wie er hoffte, einem Lächeln ähnelte. »Das sehe ich anders«, sagte er. »Vielen Dank für Ihr Angebot, Harvey, aber das kann ich leider nicht annehmen.«
Harvey zuckte die Achseln. »Mehr war nicht zu machen«, sagte er. »Das Angebot für deine Schwester steht weiterhin, aber den Lieferservice von Haus zu Haus kann ich nicht mehr garantieren.«
»Verstehe«, sagte Alex. Er streckte Harvey die Hand entgegen. »Nichts für ungut?«
»Nichts für ungut«, antwortete Harvey.
Alex versuchte sein Zittern zu unterdrücken, während er die Konservendosen, die Trinkpäckchen, den Reis und die Cheerios in seinem Rucksack verstaute. »Dann bis nächste Woche«, sagte er und zog seinen Mantel wieder an.
Harvey nickte.
Alex ging aus dem Laden und um die nächste Ecke. Sein Magen war leer, aber er würgte und spuckte, bis er schließlich vor Grauen und Erschöpfung zusammenbrach.
Montag, 21 . November
Am Samstag hatte Alex Pater Franco seine Sünden, einschließlich der Mordgelüste, gebeichtet und den Rest des Tages mit Fasten und stillem Gebet verbracht. Erst nach der Sonntagsmesse hatte er wieder etwas gegessen. Während er mit Bri die zwölf Stockwerke zu ihrer Wohnung hinaufstieg, dachte er an jedem Treppenabsatz über eine Station des Kreuzwegs nach.
Am Sonntagabend stand sein Plan schließlich fest. Nur aus falschem Stolz, gestand er sich ein, hatte er überhaupt so lange gezögert. Und in Zeiten wie diesen konnte falscher Stolz tödlich sein.
Ohne einen Gedanken an seinen Plan zu verschwenden, widmete er sich den Zerstreuungen des Vormittags. Leichen-Shopping mit Kevin, wobei keiner von ihnen sehr gesprächig war. Das wenige, was er ergattert hatte, zur Wohnung zurückbringen. Bri begrüßen, die schon wach, aber noch im Bett war. Julie antreiben, sich für die Schule fertig zu machen, weil sie montags immer spät dran waren. Zur Schule gehen, seinen Rucksack im Spind verstauen und dann wieder verschwinden, ohne Pater Mulrooney oder einem der anderen Lehrer Bescheid zu sagen. Die Jungen kamen und gingen, ohne dass sich noch irgendwer dafür zu interessieren schien.
Er zog die Karte hervor, die Chris Flynn ihm vor so langer Zeit gegeben hatte, und las noch einmal die Adresse, obwohl er sie längst auswendig kannte. West 52 nd Street. So weit südlich war Alex nicht mehr gewesen, seit er im Mai zum Port Authority gelaufen war.
Es war ein komisches Gefühl, all die Wolkenkratzer zu sehen, in denen es früher von Leben gewimmelt hatte und die jetzt halb tot wirkten. Aber auch halb tot war immer noch lebendiger als sein Viertel, und die Leute, die er sah, schienen alle ein Ziel zu haben. Das mussten die wichtigen Leute sein, ging ihm auf, die mit den Beziehungen, die ihre Familien längst in Sicherheit gebracht hatten. Alles an ihnen wirkte sauberer, gepflegter, sogar ihre Atemschutzmasken. Und alle hatten Fleisch auf den Rippen, keiner sah aus wie ein wandelndes Skelett. Wie es wohl war, wenn man keinen Hunger, keinen Schmutz und keine Angst kannte? Obwohl – Angst musste doch eigentlich jeder haben, der noch bei Verstand war.
Hoffentlich würden die Leute nicht merken, dass er nicht hierhin gehörte, sonst würde man ihn womöglich nach Hause zurückschicken, bevor er mit Mr Flynn sprechen konnte. Er hatte sich in seinem Leben schon öfter mal als Außenseiter gefühlt – in seiner Familie, weil er so gern zur Schule ging, und in der Schule, weil seine Familie so arm war. Aber noch nie in New York. Heute hatte er zum ersten Mal das Gefühl, dass er nicht dazugehörte, und das machte ihm Angst.
In den Straßen südlich des Central Park gab es,
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