Die Verlorenen von New York
verschnaufen.
Als sie wieder zu Atem kamen, packte Alex Julie bei den Schultern und schüttelte sie. »Das machst du nicht noch mal!«, brüllte er. »Nie wieder läufst du alleine los, hast du gehört?«
»Ja. Es tut mir leid«, schluchzte Julie. »Ich hatte solche Angst, Alex. Ich mach das nie wieder, ich schwör’s. Nie wieder.«
Alex ließ sie los. Seine Zehen waren halb erfroren und fingen jetzt an zu pochen. Aber die schmerzenden Füße waren gleich wieder vergessen, wenn er daran dachte, was Julie um ein Haar passiert wäre.
»Kannst du mir einen Gefallen tun?«, fragte er. »Gehst du für mich rauf und holst mir mein anderes Paar Schuhe? Die stehen im Flurschrank. Wenn Bri wach ist, dann sag ihr …« Er suchte nach einer plausiblen Begründung, warum er ein neues Paar Schuhe brauchte. »Sag ihr, das andere Paar hätten mir die Ratten versaut.«
»Nein«, sagte Julie. »Ich geh nicht allein die Treppe rauf. Nie und nimmer.«
»Im Treppenhaus ist doch niemand«, sagte Alex. »Nun geh schon.«
Julie schüttelte den Kopf. »Ich gehe da nicht alleine rauf«, wiederholte sie.
Alex’ Zehen pochten. Er zwang sich, ruhig zu bleiben. Es wäre sowieso ein Fehler gewesen, Julie allein nach oben zu schicken. Bestimmt hätte sie Bri gleich alles erzählt und damit einen Asthmaanfall hervorgerufen, und dann wäre sie runtergekommen, um ihn zu holen, und er hätte die zwölf Etagen doch barfuß hochlaufen müssen. Und was alles passieren könnte, wenn es ein wirklich schlimmer Anfall war, darüber wollte er lieber gar nicht nachdenken.
»Schon gut, ich gehe selber«, sagte er. »Du wartest hier.«
»Nein«, sagte Julie wieder. »Wir gehen zusammen rauf. Falls er doch hinter uns hergekommen ist.«
»Von mir aus«, sagte Alex. »Wie du willst. Aber kein Wort davon zu Bri, ist das klar?«
Julie nickte. »Kein Wort«, versprach sie. »Hauptsache, du lässt mich niemals allein.«
VIERZEHN
Freitag, 11 . November
Veterans Day. Alex hatte ihn ganz vergessen. Er war mit Kevin zur Lebensmittelverteilung gegangen, nur um festzustellen, dass sie heute nicht stattfand. Und alles, was er bei Harvey hatte kriegen können, war eine Dose Hühnersuppe und eine ziemlich zerbeulte Dose grüne Bohnen. Und er war um ein Paar Schuhe ärmer.
Er konnte einfach nicht einschlafen. Alex schnappte sich die Taschenlampe, stand von seinem Schlafsofa auf und stolperte in die Küche. Dort bewahrten sie alles auf, die Lebensmittel und auch die wenigen Sachen, die sie noch tauschen konnten. Vielleicht sollte er eine Liste machen, damit es ihm wieder besser ging. Vielleicht sollte er sämtliche Küchenschränke durchforsten, ob nicht doch noch irgendwo eine ungeöffnete Packung oder Konservendose zu finden war oder ein Fünf-Gänge-Menü, das unter einem Stapel Pullover versteckt war.
Aber nicht einmal dieser Stapel Pullover war zu finden. Seit Bri wieder zu Hause war, hatten sie so gut wie alles, was aus den anderen Wohnungen stammte, eintauschen müssen.
Nicht zum ersten Mal dachte Alex, wie absurd es war, dass sie in einem sechzehnstöckigen Gebäude wohnten, aber nur Zugang zu vier Wohnungen hatten. Fünf, wenn man ihre alte mit einrechnete. In New York waren die Wohnungen alle mit Stahltüren und Mehrfachschlössern ausgestattet, und obwohl hier, soweit er das angesichts der Stille im Gebäude und des Verwesungsgeruchs beurteilen konnte, außer ihm und seinen Schwestern niemand mehr lebte, kamen sie trotzdem nicht in die verlassenen Wohnungen hinein.
Ohne es eigentlich zu wollen, holte er sich Stift und Zettel und fing an, eine Liste zu machen. Eigentlich waren ihm diese Listen schon lange kein Trost mehr, aber wenn er nicht schlafen konnte, stellte er trotzdem welche auf. Es war sinnlos, eine Liste über ihre Vorräte aufzustellen, denn es war so gut wie nichts mehr übrig. Ebenso sinnlos war es, eine Liste mit den Dingen aufzustellen, die sie brauchten, denn sie brauchten so gut wie alles. Es war sinnlos, aber er machte trotzdem eine.
VERSCHWUNDEN , schrieb er ganz oben auf den Zettel.
Papá
Mamá
Carlos
Onkel Jimmy, Tante Lorraine und ihre Kinder
Chris Flynn
Tony
Alex starrte auf die Liste und ihm wurde klar, dass das nicht einmal die Spitze des Eisbergs war. Da waren auch noch Onkel Carlos und Tante María, Onkel José und Tante Irene, die zusammen mit Papá in Milagro del Mar bei Nanas Beerdigung gewesen waren. Seine sämtlichen Cousins und Cousinen waren verschwunden. Ebenso die Priester an seiner Schule, das
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