Die Verlorenen von New York
wühlte in einem Stapel Unterlagen. »Die Leute fahren in großen Konvois von hier los«, sagte er. »Ich habe nicht weiterverfolgt, wo die Familien jetzt hingeschickt werden, weil meine sich gesund und munter in South Carolina befindet. Aber ich weiß, dass die gesicherten Städte alle im Süden liegen, im Inland, und dass es dort Polizei, medizinische Versorgung, Schulen und Nahrungsmittel gibt. So viel kann ich dir versprechen. Der nächste Konvoi verlässt New York am 28 . November, aber man muss mindestens zwei Wochen im Voraus reservieren, für den ist es also schon zu spät. Gut, der nächste geht dann am 12 . Dezember. Wann genau hast du Geburtstag?«
»Am 22 . Dezember«, sagte Alex.
»Dann wird’s gerade noch reichen«, sagte Mr Flynn. »Die Angehörigen dürfen nämlich noch keine achtzehn sein. Ihr müsst eure Geburtsurkunden und Meldebescheinigungen mitbringen.« Er zog einen Bogen Briefpapier mit Geschäftskopf unter einem Stapel hervor. »Ist Julie eine Abkürzung?«, fragte er. »Und was ist mit Alex?«
»Julie heißt Julie«, erwiderte Alex. »Und ich heiße offiziell Alejandro.«
»Alles klar«, sagte Mr Flynn, während er fieberhaft schrieb. »Alejandro, Briana und Julie Morales sind ab heute meine rechtmäßigen Mündel. Sollte irgendjemand wegen der Passierscheine Schwierigkeiten machen, legst du ihnen dieses Schreiben vor. Die Reservierungen nehme ich selbst vor, da dürfte es keine Probleme geben. Und hier ist eine Liste darüber, was ihr mitnehmen dürft. Nicht viel, wie du siehst, aber an dem Ort, zu dem ihr kommt, sollte es alles Notwendige geben.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Alex und nahm das Schreiben an sich.
»Der Konvoi fährt am Montag, dem 12 . Dezember, um 14 Uhr von Port Authority ab«, sagte Mr Flynn. »Seid aber lieber schon um elf Uhr dort. Vielleicht könnte der Vater von Kevin Daley euch hinfahren, der hat doch ein Transportunternehmen.« Er hielt inne. »Nein, wenn ich’s mir recht überlege, frag ihn lieber nicht. Erzähl niemandem von diesen Passierscheinen, sie sind zu wertvoll. Und bis zum Tag eurer Abreise würde ich auch niemandem davon erzählen, dass ihr New York verlassen wollt.«
Alex nickte. »Ich danke Ihnen, Mr Flynn. Sie retten meinen Schwestern das Leben.«
»Dir hoffentlich auch«, sagte Mr Flynn. »Ich könnte Chris nicht mehr in die Augen sehen, wenn ich dich hier zusammen mit der Stadt einfach sterben ließe. Ich habe dir immer hoch angerechnet, was du für Chris getan hast. Bevor du aufgetaucht bist, um ihm Konkurrenz zu machen, war der Sieg für ihn immer selbstverständlich. Du hast ihm ein paar wertvolle Lektionen erteilt. Ich glaube, genau diese Lektionen helfen ihm heute dabei, zu überleben.«
»Und das, was ich von ihm gelernt habe, hilft mir beim Überleben«, sagte Alex. »Vielen Dank für alles, Mr Flynn. Ich stehe für immer in Ihrer Schuld.«
»Bleib am Leben«, sagte Mr Flynn. »Das ist mir Lohn genug.«
Donnerstag, 24 . November
Beim Thanksgiving-Essen in der Kirche gab es zwar keinen Kürbiskuchen, aber immerhin Baisertörtchen mit Kürbiscreme. Die grünen Bohnen waren eindeutig aus der Dose, aber irgendwer hatte ein paar Mandelsplitter beigesteuert; es gab Süßkartoffeln mit Marshmallows und reichlich Truthahnfüllung für jeden, wenn auch keinen Truthahn. Dazu wurde Punsch und sogar ein bisschen Apfelsaft serviert.
Nur noch achtzehn Tage, dann wären sie raus aus New York und in Sicherheit. Von allen Geheimnissen, die Alex in den vergangenen sechs Monaten hatte bewahren müssen, war dies das einzige, das ihn zum Lächeln brachte. Es war ihm egal, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wo er und seine Schwestern am Ende landen würden. Vielleicht in Florida, vielleicht in Oklahoma oder Texas oder auch ganz woanders. Bestimmt wäre es nicht das Paradies, von dem Julie immer träumte, mit Sonne und sauberer Luft. Aber sie wären dort in Sicherheit und es gäbe Lebensmittel und richtige Medikamente und die Chance auf einen Neuanfang.
Zum ersten Mal seit Monaten gestattete sich Alex Gedanken an die Zukunft. Falls er für einen Schulbesuch schon zu alt war, würde er sich Arbeit suchen. In den Städten wurden immer Arbeitskräfte gebraucht. Wenn er die Möglichkeit hatte, von dort wegzugehen, würde er versuchen, Carlos oder Onkel Jimmy zu finden. Wenn nicht, würde er eben so lange weiterarbeiten, bis Bri und Julie in irgendeiner Weise versorgt waren. Es würde ihn nicht überraschen, wenn Bri nach der Schule tatsächlich
Weitere Kostenlose Bücher