Die Verlorenen von New York
wie er feststellte, weder Leichen noch Ratten. Entweder waren die Leute in dieser Gegend gesünder oder die Leichensammlung war besser organisiert. So oder so war es der Beweis dafür, dass es mehr als ein New York gab, und dieses hier war dasjenige, das zählte.
Wie einen Rosenkranz befühlte er immer wieder Mr Flynns Visitenkarte. Es war nicht einmal sicher, dass Chris’ Vater sich noch in New York befand. Aber es gab sonst niemanden mehr, den Alex um Hilfe bitten konnte. Das Leben seiner Schwestern hing davon ab. Vor dem Bürogebäude zögerte er einen Moment, bat Christus um Kraft und Barmherzigkeit, rückte seine Krawatte zurecht und trat ein.
In der Eingangshalle war nur ein einziger Wachmann zu sehen. »Ja?«, fragte der.
»Ich möchte mit Robert Flynn sprechen«, sagte Alex. »Vizepräsident der Danforth Global Insurance.«
»Hast du einen Termin?«, fragte der Wachmann, während seine Hand zu der Waffe in seinem Gürtel wanderte.
»Er kennt mich«, sagte Alex. »Ich bin ein Freund seines Sohnes. Ich habe seine Visitenkarte.«
»Na, das ist doch schon mal gut«, sagte der Wachmann. »Lass dich mal abtasten.«
Alex ging zu ihm und stand reglos da, während der Wachmann die Hände über seinen Körper gleiten ließ. Ein Glück, dass er heute keine Dose Ananas dabeihatte.
»Gut, ich geh davon aus, dass du nicht hier bist, um ihn zu töten«, sagte der Wachmann. »Mal sehen. Ah ja, Flynn, der ist Level 6 . Den findest du irgendwo auf der sechsten Etage. Treppe ist da drüben.«
»Geht der Aufzug nicht?«, fragte Alex.
»Spielt keine Rolle«, antwortete der Wachmann. »Die Aufzüge sind für die Führungskräfte reserviert. Du nimmst die Treppe.«
»Alles klar«, sagte Alex. Er ging in die Richtung, die der Wachmann ihm gewiesen hatte, und stieg die Stufen hinauf. So weit, so gut.
In der sechsten Etage öffnete er die Brandschutztür und wanderte dann den Gang entlang, bis er eine Tür fand, auf der ein handgeschriebener Zettel klebte: Robert Flynn, DGI . Er klopfte an.
»Herein.«
Alex öffnete die Tür. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber eigentlich hätte er schon gedacht, dass hinter der Tür ein paar Leute sitzen würden oder wenigstens eine Empfangsdame. Stattdessen herrschte hier das gleiche Bild der Verlassenheit, an das er sich inzwischen schon gewöhnt hatte: keine Menschenseele, dafür aber kistenweise Aktenordner, die den ganzen Boden und fast alle Möbel bedeckten. Immerhin war der Raum geheizt, sicher an die achtzehn Grad. Eine Bürotür stand offen, und Alex ging auf sie zu.
»Mr Flynn?«, fragte er, aber das wäre nicht nötig gewesen. Der Mann hinter dem Schreibtisch sah aus wie eine exakte Kopie von Chris, nur älter und sehr viel erschöpfter. Sein Anblick erschütterte Alex, so als hätte er einen Blick auf Chris erhascht, wie er in dreißig Jahren aussehen würde. Vorausgesetzt, dass Chris in dreißig Jahren noch lebte.
»Ja bitte?«
»Mein Name ist Alex Morales. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch daran erinnern, aber ich war ein Mitschüler von Chris. An der St. Vincent de Paul Academy.«
Mr Flynn starrte Alex an. »Ach ja«, sagte er. »Alex. Ein Freund von Chris. Chris hat oft von dir gesprochen.«
»Wie geht es ihm?«, fragte Alex. »Gefällt es ihm in South Carolina?«
»Kann es einem heutzutage noch irgendwo gefallen?«, fragte Mr Flynn zurück. »Aber es geht ihm gut, nehme ich an. Ich habe schon länger nichts mehr von ihm gehört, aber beim letzten Mal ist er wieder zur Schule gegangen. Wie sieht’s denn aus an der Vincent de Paul? Hat sie noch geöffnet?«
»Ja, Sir«, sagte Alex. »Es sind nicht mehr sehr viele Lehrer übrig, aber wir haben immer noch Unterricht.«
»Gut, gut«, sagte Mr Flynn. »Setz dich, Alex. Ich werde Chris auf jeden Fall erzählen, dass du hier warst.«
»O ja, bitte«, sagte Alex. »Es tut mir leid, dass ich Sie hier stören muss, Sir, aber Chris hat mir gesagt, wenn ich mal ein Problem hätte, ein richtig großes, sollte ich Sie um Hilfe bitten. Das war kurz vor seiner Abreise.«
»Hoffentlich ist das ein Problem, das ich lösen kann«, sagte Mr Flynn. »Es scheint mir lange her zu sein, dass ich Probleme lösen konnte.«
»Es geht um meine Schwestern«, sagte Alex. »Briana und Julie. Bri ist fünfzehn, und sie hat Asthma. Das hat diesen Sommer angefangen und sie ist sehr davon geschwächt. Julie ist dreizehn und kerngesund, aber sie ist eben ein Mädchen, wenn Sie verstehen, was ich meine, Sir.«
»Wo sind eure
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