Die Verlorenen
Vampir deshalb gelernt, sein Gesicht mit den eigenen Finger »zu sehen«, in der Art eines Blinden. Jetzt tastete Gerome wieder einmal seine Züge ab, und sie waren längst nicht mehr jene des jungen Landadligen, als der er Anfang des 18. Jahrhunderts von Frankreich herüber in die Neue Welt gekommen war.
Zu dem Gesicht eines alten Mannes waren Geromes Züge allerdings erst vor kurzem geworden. Als das »große Sterben« - wie er es jetzt, da es vorüber war, bei sich nannte - begonnen hatte.
Er erinnerte sich noch, womit es begonnen hatte. Auf eigenartige, aber doch harmlose Weise - wenn man sie in Relation zu den furchtbaren Folgen setzte .
Eine Wolke wie aus purpurfarbenem Staub hatte ihn selbst aus dem Nichts getroffen und ihm das Bewußtsein geraubt. Er hatte keine Erklärung dafür gefunden, aber auch keine weiteren Auswirkungen feststellen können.
Nicht an sich selbst zumindest .
Wohl aber, im Laufe der nächsten Tage, bei den Angehörigen seiner Sippe, den Kindern seines schwarzen Blutes. Die Begegnung jedes einzelnen von ihnen mit ihm war zur letzten geworden.
Denn danach überkam unstillbarer Blutdurst jene sechs, die die Zeit noch übriggelassen hatte. Sie begannen wahllos Opfer zu schlagen und leerzusaufen, doch nicht alles Blut der Welt konnte ihren körperlichen Verfall noch stoppen.
Gerome hatte den Kodex der Alten Rasse gebrochen. Sechsmal.
Zum einen, um seinen Kindern das Leid qualvollen, unausweichlichen Sterbens zu ersparen; zum anderen, um zu verhindern, daß die Menschen durch das Morden auf ihn selbst als einzigen verbleibenden Vampir aufmerksam wurden und ihn zu jagen begannen.
Die vergangene Nacht jedoch hatte jene Gewissensnot, die er mit dem Töten seiner Kinder auf sich geladen hatte, zur Farce verkommen lassen. Gerome hatte zu spät davon erfahren, um viel dagegen tun können. Als er den Ort des Geschehens erreichte, waren die Dienerkreaturen bereits im Rückzug begriffen. Einigen wenigen hatte er noch das Genick gebrochen, aber das war nicht mehr gewesen als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Gerome wußte, was dem Morden vorausgegangen war.
Dazu hätte es nicht einmal jener dreckbeschmierten Nachricht bedurft, die er am Morgen bei seiner Rückkehr in seinem Gemach vorgefunden hatte.
Triff mich morgen Nacht auf dem St. Louis Cemetery No. 1. Dort soll sich weisen, wer würdig ist, über diese Stadt zu herrschen.
Unterzeichnet war die Aufforderung nicht. Doch Gerome hatte nicht den geringsten Zweifel daran, wer sie ihm hinterlassen hatte. Guillaume sollte seinen Kampf bekommen.
Bis zum Anbruch der Dunkelheit war noch genügend Zeit zum Tanken neuer Kräfte.
Gerome läutete nach seinen Gespielinnen - und ließ sie alle zu sich kommen.
Jedoch nicht, um mit ihnen zu spielen. Dazu war die Lage zu ernst.
*
Lilith gab sich alle Mühe, sich das wahre Ausmaß ihres Entsetzens nicht anmerken zu lassen. Aber es ging zu tief, um es überspielen zu können.
»Was ist mit dir los?« fragte Patsy Keenlan, nachdem sie die zweite Tasse Cafe au lait getrunken hatte. »Du hast dein Frühstück kaum angerührt und bist überhaupt - so anders auf einmal.«
Lilith verzog die Lippen zum Hauch eines Lächelns, eines freudlosen und krampfhaften noch dazu.
»Es ist nichts. Jetlag vielleicht«, winkte sie ab.
»Nach einem Inlandsflug?« fragte Patsy. Ihre rechte Braue wanderte in die Höhe, und wieder einmal verstärkte sich ihre Ähnlichkeit mit Beth MacKinsay.
Lilith zuckte nur die Schultern.
Patsy wies auf die Zeitung, die Lilith absichtlich so hingelegt hatte, daß sie die Titelseite nicht ansehen mußte.
»Es ist diese Sache, stimmt's? Sie macht dir zu schaffen.«
»Dir nicht?« wich Lilith aus.
»Doch. Aber ich ändere mit Selbstgeißelung nichts daran. Sie werden diese Bande von Verrückten schon schnappen.«
»Ist mir wohl auf den Magen geschlagen«, sagte die Halbvampi-rin, und die Lüge war nicht einmal eine wirkliche.
Patsy stand auf. »Na, komm. Wir bringen dich auf andere Gedanken. Laß uns in den Geschäften nach einem tollen Kostüm für den Mardi Gras suchen, hm?«
Lilith lächelte wieder, eine Spur echter diesmal.
»Lieb gemeint. Aber ich lege mich lieber noch ein Weilchen aufs Ohr, okay? Damit ich fit bin, wenn's losgeht.«
Wenn's losgeht...
Lilith seufzte schwer. Sie wußte nicht, was sie tun sollte, »wenn's losging« - denn sie sprach nicht vom Mardi Gras .
»Na gut«, erwiderte Patsy Keenlan. »Wir sehen uns später.« Sie hauchte der Halbvampirin einen Kuß
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