Die Vermessung der Frau
durch eine Gesellschaft, welche sich nur noch auf die Materie konzentriert.
Schauen wir – aus Copyrightgründen nur in unserer Imagination – auf den mit 8601 Diamanten besetzten Schädel des Künstlers Damien Hirst. Unter dem Titel »For the Love of God« – steht das Kunstwerk für 50 Millionen englische Pfund in der White Cube Gallery zum Verkauf. Mit kalter Präzision verwandelt Hirst einen Menschenschädel aus dem 18. Jahrhundert in ein unermesslich teures Kunstwerk. Dass er seinen Schädel auch noch als »For the Love of God« bezeichnet, ist schon fast blasphemisch wahrheitsnah. Denn »jenseits von Gut und Böse« erhalten Totenköpfe mit Diamenten versetzt unendlichen Wert, während lebendige Menschen mit einem viel kleineren Preisschild ihr Schicksal meistern müssen. Hirsts Kunst ist genial aus mehreren Gründen. Verwerflich aus ebenso vielen. Aber wahrhaftig auf jeden Fall.
Alles fällt also auf den Menschen zurück. Auch davon erzählt uns die Kunst. Die Innenschau der Moderne wird nun bis zum Exzess betrieben. Der britische Künstler Antony Gormley reproduziert mit seinen eigenen Körpersäften mehrere tausend Bilder ausschließlich von sich selbst, Marc Quinn formt eine Büste, die »nine pints« seines eigenen Blutes enthält, Tracey Enim exhibitioniert ihr Bett mit Originalbettlaken, intimen Erinnerungsstücken und Körpersäften. Künstler und Künstlerinnen schauen uns durch ihre Werke in die Augen. Sie manifestieren sich und ihre Welt in der Transformation ihrer Kunst.
Es könnte also sein, dass die Orientierung an nichts, d. h. dem völligen Fehlen einer Unterscheidungskraft zwischen öffentlich und privat, den Menschen selbst schon zum Nichts (zum menschlich nicht Verständlichen), sprich zum Preisschild, gemacht hat. Davon spricht die Kulturphilosophin Christina von Braun, die zeigt, dass Menschen heute mehr und mehr als lebendige Münze für die Finanzmärkte herhalten müssen.
Für uns Menschen bedeutet das, dass wir so unseres wesentlichen Wertes beraubt sind. Wir sind verwirtschaftlicht, durchökonomisiert. Diese Berechnungen schleichen sich nun in Beziehungen zwischen den Menschen ein. Sie verwischen Werte, sie lassen uns vergessen, was wichtig oder unwichtig ist. Sie machen langfristige Werte relativ. Sie haben ihren Partner satt? Der Markt ist groß, die Freiheit auch, weshalb denn noch verweilen?
Wenn alle menschlichen Belange zwischen Menschen auf Waren, auf Dinge, auf Materie und Privatrecht reduziert werden, dann findet eine große Vereinsamung des Menschen statt. Der lebendige Austausch wird vernichtet. Deshalb geben Menschen auch gar nichts mehr von sich selbst preis, es sei denn vor der Kamera, die eine völlige Entwürdigung möglich macht. Gemeinsame Überzeugungen lassen sich in einer Welt, die sich nur noch aus einer Relativität ergibt, schlecht herstellen. Kurzfristigkeit in allen Belangen schleicht sich ein. Der One-Night-Stand wird zum Lebensmodell. Die Lebenszeit muss sich mit möglichst vielen kurzfristigen Episoden und Konsum auffüllen, das lernen wir aus den Zahlen und dem Verlust der sinnlichen Welt.
In der Moderne geht die Sicherheit verloren, wie mit Wissen um Wahrheit und Wirklichkeit umzugehen ist, sowie das Vermögen zu glauben und zu vertrauen – und damit auch die kommunikative Verständigung darüber, was Menschen außer ihrem Zählwert vielleicht alles noch sind. Nicht nur die Welt befindet sich in der Krise, sondern eben auch der Mensch.
Während alles Große, Wichtige, Entscheidende, Umwälzende nicht mehr beredet wird, da die Innovationen mit gesundem Menschenverstand kaum mehr fassbar sind, reden die Menschen dafür über alles Kleine, Unwichtige, Nichtentscheidende und völlig irrelevant Normale. Kitsch ist eben in. In aller Öffentlichkeit entblättern Menschen ihr Intimleben, während sie sich über die wichtigsten menschlichen Belange nicht austauschen. Verrückt, nicht?
Überall Hektik, Aktivität, Zahlen, Darstellungen, Bilder – ein rastloses Kaleidoskop. Dabei vergessen wir, dass der Mensch selten aktiver ist als genau dann, wenn er nichts tut.
»Die Erfahrung des Denkens hat seit eh und je, vielleicht zu Unrecht, als ein Vorrecht der Wenigen gegolten, aber gerade darum darf man vielleicht annehmen, dass diese Wenigen auch heute nicht weniger geworden sind. Dies mag von nicht zu großer Bedeutung oder doch von nur sehr eingeschränkter Bedeutung für die Zukunft der Welt sein, die nicht vom Denken, sondern von der Macht
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