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Die Vermessung der Frau

Die Vermessung der Frau

Titel: Die Vermessung der Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regula Stämpfli
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handelnder Menschen abhängt: es ist nicht irrelevant für die Zukunft des Menschen. Denn hätten wir die verschiedenen Tätigkeiten der vita activa lediglich von der Frage her betrachtet, welche von ihnen die ›tätigste‹ ist und in welcher sich die Erfahrung des Tätigseins am reinsten ausspricht, dann hätte sich vermutlich ergeben, dass das reine Denken alle Tätigkeiten an schierem Tätigsein übertrifft. Diejenigen, die sich in der Erfahrung des Denkens auskennen, werden schwerlich umhinkönnen, dem Ausspruch Catos zuzustimmen: ›numquam se plus agere quam nihil cum ageret, numquam minus solum esse quam cum solus esset‹, was übersetzt etwa heißt: ›Niemals ist man tätiger, als wenn man dem äußeren Anschein nach nichts tut, niemals ist man weniger allein, als wenn man in der Einsamkeit mit sich allein ist.‹« (Hannah Arendt, Vita Activa, S. 414-415)

    Die Signatur der Moderne – und damit beende ich meine philosophische Abhandlung – besteht also unter anderem in einem komplexen Zusammenspiel von Instrument und Objekt, von Ort und Gefühl, von Mensch und Sinn, von Körper und Sprache. Diese höchst philosophischen Vorgänge manifestieren sich nun in unserem Alltag. Sie dürfen nun ausatmen, ab jetzt bin ich leichter zu lesen!

    Kranken beispielsweise wird nicht mehr wirklich zugehört, sondern sie werden sofort zum Röntgen, zum Ultraschall oder in den Computertomographen gesteckt. Wurden früher Krankheiten als Ausdruck des betroffenen Menschen verstanden, sind sie heutzutage nur ein zu behebender Mangel eines durchschnittlichen Systems. Messwerte sagen uns dann, wie es um uns steht. Die Kranken erzählen nur noch am Anfang etwas von ihrer Krankheit, dann müssen sie schweigen, denn dann übernehmen die Instrumente. Der Arzt mit seiner menschlichen Urteilskraft steht abseits. Die diversen Gesundheitsstatistiken machen das möglich. Die neuen Assistenzärzte müssen nichts mehr über Menschen, dafür alles über statistische Methoden wissen. So wird man dann nicht mehr als Patient im Krankenhaus aufgenommen, sondern als Krankengut eingeliefert. Und wie fühlt man sich dabei? Ausgeliefert. Eben.

Ich erzähle Ihnen eine ganz persönliche Geschichte. Wie sehr der Blick auf den eigenen Körper vom jeweiligen kulturellen Umfeld geprägt wird, musste ich auf schmerzhafte Weise selbst erfahren, als ich mit 16 Jahren das erste Mal in die USA ging.

    Bis ich 16 war, kümmerte ich mich nicht weiter um meinen Körper. Ich war dünn wie eine Bohnenstange, obwohl ich essen konnte wie ein Scheunendrescher. Aber als Naturkind sauste ich eben den ganzen Tag durch die Gegend und konnte keine Sekunde stillsitzen.

    Zwei Wochen in Kalifornien genügten, um mir mein Körpergefühl zu nehmen. Ich war aus dem klassisch bürgerlich-altgriechischen Gymnasium für ein Austauschjahr in die USA gegangen. Dort aß ich wie gewohnt, realisierte indessen nicht, dass die Essensportionen viel, viel größer waren als in Europa. Ein für die Amerikaner normales Croissant hatte den Umfang meines Unterarmes. Hüttenkäse kam nur in Halbkilo-Packungen daher, Joghurt ebenso. Da eben die Portionen so groß waren, merkte ich, dass ich mich selbst belog, indem ich mir einredete, ich würde ja nur die »normale« Ration zu mir nehmen. Innerhalb kürzester Zeit ging ich auf wie ein Hefeküchlein. Trotz einer Stunde Laufen pro Tag fehlten mir die natürlichen Alltagsaktivitäten wie beispielsweise zur U-Bahn gehen, in der Stadt schlendern, die Treppen zu Fuß hochgehen oder Rad zu fahren. Mein TV-Konsum vervierfachte sich. Damals hätte mich Hannah Arendts Satz »Wer nur ein Privatleben führt, verkümmert früher oder später als Mensch« gerettet – doch so musste ich ihn leider schmerzlich am eigenen Leib erfahren.

    Die Einsamkeit, sich als grundsätzlich zufriedener Mensch in seinem Körper vor dem Fernseher oder im Auto eingesperrt zu fühlen, während die Bilder um mich herum alle von gestählten, gesunden Supermodelkörpern nur so strotzten, war unbeschreiblich. Ich fühlte mich einer Welt ausgesetzt, die einem völlig unwirklichen weiblichen Barbie-Körper huldigte und gleichzeitig die weibliche Macht und Stimme, die weibliche Subjektivität, unfassbar brutal verachtete.
    Ungläubig starrte ich nach zwei Wochen auf meine Jeans, als ich den Reißverschluss nicht mehr schließen konnte. Zwei Wochen nur dauerte es – und ich fühlte mich fett! Eigentlich war ich nur ein bisschen dicker als normal, doch das kam aufs Selbe hinaus.

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