Die Vermessung der Frau
Bei jedem neuen Pfund fühlte ich mich schlechter, so, als hätte ich als Mensch versagt.
Von da an begann die Schreckensherrschaft der Diäten, der Fremdbilder und der Amerikanisierung meines Selbst. Ich begann, mit Freundinnen übers Essen zu reden und realisierte, dass die meisten Amerikanerinnen schon mit fünf Jahren Essstörungen hatten. Ich tauchte in den Psychostress junger Mädchen ein, der mir bis dato vollkommen fremd gewesen war. Glücklicherweise war ich intelligent genug, um nicht der weitverbreiteten kalifornischen Kultur des Fressens und Kotzens anheimzufallen, denn das verbot mir meine Selbstachtung. Trotzdem war es eine der traumatischsten Erfahrungen meines Lebens. Was vorher Regula war, wurde in der amerikanischen Fett-Gesellschaft zu einer entfremdeten Frau, die, statt ihre Zeit Bücher lesend, mit Freunden spielend und die Welt entdeckend zu verbringen, ständig von einem Big-Brother-Auge auf ihren unförmigen Körper verfolgt wurde. Mein gesamtes Amerikajahr verbrachte ich damit, mich dem katastrophalen Barbie-Phänomen zu opfern. Einzig die Lehrer hielten mich am Leben. Sie lenkten mich von der Katastrophe, in eine mir vollkommen fremde Gesellschaft der äußeren Werte geworfen worden zu sein, ab. Einer Gesellschaft, an deren aalglatter Fassade jedes Gefühl abglitt und in der Kanalisation des Konsums entsorgt wurde.
Meine Lehrer ließen mich die Verletzungen, die mir von einem Tag auf den anderen via Fremdbild und eigenem Blick zugefügt wurden, eine Zeitlang vergessen. Sie gaben mir den Mut zu lernen, Theater zu spielen, Sport zu treiben und Musik zu machen. Ohne diese Unterstützung, ohne diesen wahrhaft american spirit des »You can do it« wäre ich in meinem Beruf nie so weit gekommen wie heute. Und genau das war die schöne Seite meines Austauschjahres. Trotzdem war dieses Gefühl, nicht mehr »Herrin im eigenen Haus zu sein« und von etwas anderem als von Lust am Essen, Lieben, an Bildung und Musik getrieben zu sein, absolut furchtbar.
Essstörungen töten nicht nur den Körper, sie töten vor allem die Seele.
»Zahllose Frauen und Männer in der westlichen Welt leiden an einer gravierenden Essstörung: einem privaten, gewalttätigen Ausdruck des kulturellen Traumas, das entsteht, wenn der weibliche Körper als kommerzielle Ressource angeeignet und die Frau als industrielles Produktionsmittel verstanden wird. Seit 1999 ist die Anzahl der Teenager, die mit anorexia nervosa in die Klinik eingewiesen werden, um 80 % gestiegen. Täglich wird uns Frauen klargemacht, dass wir hungriger, schlampiger, hässlicher, bedürftiger, ärgerlicher, mächtiger und weniger perfekt sind, als wir sein sollten. Es ist viel mühsamer, dieser Kultur des Kritisierens und der daraus folgenden Herabsetzung des Selbstwertgefühls die Stirn zu bieten, als die Scham darüber einfach wegzuhungern. Der Triumph des freiwilligen Hungerns ist die größte Niederlage des Feminismus in der westlichen Welt.« (Laurie Penny, Fleischmarkt, S. 45-46)
Die britische Kolumnistin und Bloggerin Penny beschreibt perfekt, was ich als Austauschstudentin erleben musste: Ich begann, mich für mein eigenes Fleisch zu verachten. Die perverse und alles beherrschende Frauenverachtungsrhetorik in den Medien bewirkte, dass mein bis dahin gesundes Selbstwertgefühl als Mensch und als Frau beschädigt wurde. »Der Schmerz
ist körperlich, politisch und ebenso eine Reaktion gegen die aufdringliche Wirkung des Schönheitsfaschismus wie eine Unterwerfung unter die Verdinglichung«, meint Laurie Penny in »Fleischmarkt« auf Seite 48 weiter. Ich konnte jedoch von Glück reden, dass ich schon 16 Jahre alt war, als ich von dieser Körperhass-Welle überflutet wurde. Die meisten amerikanischen und deutschen Mädchen, die von klein auf mit den unerfüllbaren Ansprüchen der casting-shows und der Werbeindustrie konfrontiert werden, haben dieses Glück nicht.
Wieder zurück in Europa, normalisierte sich mein Körpergefühl sofort. Zudem galten zu meiner Zeit noch Bildung und Studium als weibliches Karriereziel und nicht der Umfang meiner Oberschenkel. Ich schwor mir, dass mir so etwas nie mehr passieren würde! In den USA bekam ich von meinen Freundinnen jede Diät aufgeschwatzt, die mich nur noch dicker machte, in Europa fielen die Pfunde ohne Diät mit meinem wiedergewonnenen Lebens- und Selbstwertgefühl.
Den Verlust meiner Unabhängigkeit von Essen, der Zwang sich ständig im Spiegel zu betrachten, die ständigen Gedanken zu meinem
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