Die Vermessung der Frau
nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.«
»Es war einmal« – Das ist die Geschichte einer verzweifelten Königin, welche ihr Leben, ihren eigenen Wert von einem sprechenden Spiegel abhängig macht. »Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr!«
Das Märchen beschreibt mit dieser Einstiegsszene alle wichtigen Themen. Es geht um die Krise des Menschen mit seinem Bild. Die böse Königin schaut in den Spiegel, und der spricht ihr nicht gut zu, sondern spiegelt ein Bild von ihr zurück, das sie nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen will.
Schneewittchens Stiefmutter wird vom Spiegel brutal ihr Recht auf ihr ganz individuelles Königinnendasein abgesprochen. Sie ist nicht mehr die Schönste – »Na und?«, würden wir ihr zurufen, und weiter: »Get over it!« Doch nein! Es ist eben nicht irgendwer, der ihr sagt, sie sei nicht mehr die Schönste, sondern ihr Spiegel!
Erkennen Sie, wie wichtig das für den Menschen ist? Wenn der Spiegel nur noch verletzend zu einem spricht, dann tut das verdammt weh. Genau so reagiert auch die Stiefmutter Schneewittchens, und anstatt sich darüber zu freuen, immerhin die Schönste hier zu sein, konzentriert sie sich nur noch auf das »tausendmal schöner«. Ein Ziel, das sie nie erreichen wird. Genauso wenig wie Sie und ich je mit den virtuell produzierten Models der großen Modehäuser werden konkurrieren können, die uns überall im öffentlichen Raum entgegenstarren!
Im Märchen nimmt alles eine dramatische Wendung: Botox, Hormonkur, Lifting, ja selbst eine Diät würden der verzweifelten Stiefmutter nicht helfen: Es gibt immer noch eine Schönere im Land! Also muss eine Vernichtungsstrategie her. Gelingt es schon der bösen Stiefmutter nicht, die Schönste im Land zu sein, so soll halt die Schönste, die erst noch einen Namen hat, sterben!
Wie in keinem anderen Märchen erzählt uns der »Schneewittchen«-Anfang von der Verzweiflung, die einen Menschen ergreift, wenn er/sie den Sinn seines/ihres Lebens nicht mehr erfüllen kann. Wenn der Spiegel des Selbst einem den Wert abspricht. Die böse Königin ist darauf versessen, die Schönste zu sein. Sie will nicht die Liebste, die Beste, die Klügste, die Lustigste, die Warmherzigste, die Mutigste, die Stärkste, die Handlungsmächtige, die Urteilskräftige sein ... nein! Sie muss schön sein. Der einzige Wert, den sie ihrem Dasein abgewinnen kann, liegt in ihrem Körper. Sie sieht sich nur, wenn sie gut aussieht. Es reicht aber nicht, dass sie einfach schön ist, neben all den anderen schönen Mädchen und Frauen. Nein! Sie muss die Schönste sein! Wie krank ist denn das? Und noch kranker: Wie kann sie in ihrem Wahn so weit gehen, dass sie Schneewittchen tatsächlich zu töten vermag?
Kommt Ihnen dieses Muster nicht bekannt vor? Erinnert Sie das nicht an Ihre täglichen Spiegelerlebnisse, die Sie entweder in Euphorie oder in eine schlechte Laune stürzen? Geht es Ihnen manchmal auch so, dass Sie sich wunderschön fühlen, gut in Ihrer Haut, Herrin im eigenen Körperhaus, und dann genügt ein Blick in den Spiegel oder ein völlig beschissenes Foto von Ihnen, um Sie sofort in eine Depression zu stürzen? Sie verlieren im Bild von einem Moment zum anderen Ihr Selbstwertgefühl. Sie sind verunsichert. Es gibt keine Beziehung mehr zwischen dem, was Sie fühlen und dem, was Sie sehen.
Die böse Königin ist von Werten besessen, die ihr nicht gut tun. Sie stellt dem Spiegel wieder und wieder die falsche Frage und wieder und wieder antwortet ihr der Spiegel wahrheitsgemäß. So wie ein Spiegel, ein Bild, respektive die gängigen Machtverhältnisse dies tun, wenn es den Menschen nicht gelingt, sinnvollere Fragen zu stellen.
Sie kennen also diese Spiegelerlebnisse? Nun ja, Sie gehen sicher nicht so weit wie die böse Königin, aus Wut und Enttäuschung
über Ihren Spiegel alles in Frage zu stellen und das Schöne in der Welt mit Ihnen selbst zu vernichten: Trotzdem! Wie oft haben Sie sich vom Spiegel in Ihrem Lebensgefühl beirren lassen? Oft? Eben.
Nie? Ich gratuliere Ihnen! Sie haben es geschafft, nicht von der Meinung anderer oder vom Bild eines Spiegels zu leben, sondern nur in Ihrer eigenen Haut. Wunderbar!
Doch solch selbstsichere Menschen, die sich nicht verwirren lassen, gibt es unter Frauen selten. Denn hinter dem Spiegel und auch hinter der Meinung anderer steckt ein Wertesystem, das Ihnen
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