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Die Vermessung der Frau

Die Vermessung der Frau

Titel: Die Vermessung der Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regula Stämpfli
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nur Sex, während die Frauen Schuhe kaufen?«, und der Spiegel würde mir ständig antworten: »Frau Philosophin, Sie mögen mit Ihren Analysen zwar hier recht haben, doch Karl Grammer und Richard Dawkins an den Eliteuniversitäten haben tausendmal mehr recht als Sie!« Und ich würde danach streben, die Jungs aus dem Weg zu räumen. So aber habe ich den Spiegel schon längst mit meinen eigenen Argumenten weggeräumt, stelle ihm nicht mehr diese bekloppten Fragen und brauche nicht ständig eine gesellschaftliche, wissenschaftliche oder politische Autorität, die mir vorschreibt, was ich zu denken, zu fühlen, zu sagen und zu sehen habe.

    Die böse Königin ist aber eben noch lange nicht so weit. Sie ist – wie es Borderline-Patientinnen übrigens oft sind – unendlich anstrengend. Sie ist so von Zerstörungswut besessen, dass dies
selbstzerstörerische Züge annimmt. Sie steht ständig unter Stress. Sie fügt sich schmerzhafte Gifte zu, um sich wenigstens irgendwie zu spüren und die großen Spannungen zu lösen.

    Die böse Stiefmutter von Schneewittchen leidet – wie schon herausgearbeitet – an einem geringen Selbstbewusstsein. Anstatt dass sie sich in ihrem Körper wohlfühlt, sich schön findet, weil sie Mensch ist, stellt sie sich dem Spiegel. Ich könnte auch sagen, sie misst ihr Sein an einem Objekt. Indem sie das tut, macht sie sich selbst zum Objekt und vergisst sich darüber. Die Wut, die sie packt, nicht mehr die Schönste im Land zu sein, obwohl sie sich wahrscheinlich immer noch schön findet, ist stellvertretend für die Wut vieler Frauen, die sich im Vergleich von Soll und Haben zurückgesetzt fühlen. Weshalb muss die böse Stiefmutter überhaupt die Schönste im Land sein? Allein das Rating von schön ist pervers genug. Schönheit ist Vielfalt. Eine »Vielfaltencreme« wünscht sich daher die selbstbewusste Juristin Zita Küng. »Vielfaltencreme« ist ein wunderbarer Ausdruck für die Schönheit von Menschen, die nicht in der Normierung, sondern eben in der Unterschiedlichkeit besteht.

    Die böse Stiefmutter bei Schneewittchen sieht ihr Ich nur im Spiegel, was ihr Begehren, welches sie am Leben erhalten sollte, in ein Gefängnis steckt. Denn der Spiegel steht für eine objektivierte Norm. Doch diese Norm ist entfremdet. Der Spiegel ist nicht real und doch dominiert er unsere Wirklichkeit. Der Spiegel nimmt der Königin ihr reales Leben. Er verkörpert den Weltverlust, das Verschieben aller menschlichen Kommunikation in Kategorien und Etiketten.

    Kein Wunder also: Wir treffen immer mehr verletzte und unsichere, böse Königinnen. Menschen, die süchtig nach Liebe und Zuwendung sind, ohne dass sie diese selbst geben können und ohne dass sie die viele Liebe und Zuwendung, die sie erzwingen, jemals auch als ausreichend annehmen könnten. Kein Wunder also: Wir treffen immer mehr Menschen, die obsessiv
über ihre physische Erscheinung, ihre Intelligenz, ihren Erfolg, ihre Macht oder ihre perfekte Beziehung fantasieren!

    Es gibt neben der Borderline-Störung noch eine andere Krankheit, die sich als falscher Spiegel entpuppt: Dysmorphia. Sie beschreibt die verzerrte Körperwahrnehmung von Menschen, die im Spiegel jemand völlig anderen sehen als sie sind. Diese Menschen vergleichen ihren Körper mit einem festgelegten Idealbild und erkennen sich nicht. Es ist eine schlimme Krankheit, die vielen den Mut raubt, sich in die Öffentlichkeit zu wagen, weil sie davon überzeugt sind, eigentlich körperlich missgebildet zu sein. Auch hier wieder reden die Ärzte über das Symptom anstatt dass sie über die gesellschaftlichen Ursachen der Krankheit nachdenken würden.

    Philosophisch gesehen verkörpert der Spiegel der bösen Königin im »Schneewittchen« viele Phänomene, die als Widersprüche der Moderne ihre Auswirkungen auf den Menschen haben. Denn einerseits sind wir Menschen seit der Aufklärung alle »Könige und Königinnen« geworden, die frei, gleichberechtigt und solidarisch ihr Geschick bestimmen könnten, und trotzdem verorten wir uns in einem vormodernen Spiegel.

    Praktisch übersetzt heißt das, dass wir zwar theoretisch mächtig wären, über unser eigenes Geschick zu bestimmen, aber immer wieder an unserer Freiheit und Mündigkeit scheitern.

    Der Philosoph Friedrich Nietzsche brachte dieses Phänomen mit seinem »Gott ist tot« und der »neuen Götzendämmerung« auf den Punkt. Denn das Verschwinden eines übermenschlichen Lebenssinns führte zum Erwachen von abertausend neuen Göttern.

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