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Die Vermessung der Frau

Die Vermessung der Frau

Titel: Die Vermessung der Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regula Stämpfli
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selbstverständlich scheinen. Die meisten Menschen vergessen völlig, dass alles, was historisch gewachsen ist, kein Naturgesetz darstellt. Das heißt auch: Alles, was historisch gewachsen ist, ist auch veränderbar. In Beratungskreisen gibt es den schönen Satz: »Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben.« Das bedeutet, dass selbst »Kindheit« kein Fixum, sondern eine Geschichte darstellt, die immer wieder auch auf unterschiedliche Art und Weise erzählt werden kann. Denn Leben bedeutet Veränderung. Nur Tote ändern sich nicht.
    WAS BEDEUTET DAS FÜR UNSEREN KÖRPER?
    Das heißt, dass auch unsere Biologie, ja sogar Ihr ganz spezifischer Körperbau nicht einfach Natur ist, sondern auch ein Stück Kultur. Unser Körper zeigt gewisse Themen unseres Selbst. Er ist gleichzeitig auch Abbild der Gesundheit. Dazu gibt es unzählige Studien, die zeigen, wie sich eine gewandelte Umgebung direkt auf den Körper auswirkt. Selbst die Gene, die lange Jahrzehnte als fix galten, sind Veränderungen ausgesetzt. »Sport verändert die DNA – und zwar nach kurzer Zeit« titelte erst unlängst die WELT.

    Doch solche Einsichten gehen leider meist verloren. Normkörper, Ideale, Proportionen werden uns wie Gift verschrieben, an dem unser Selbstbewusstsein zugrundegeht.

    Vielleicht reiben Sie sich jetzt die Augen und fragen erstaunt: Hat der Körper denn überhaupt eine Geschichte? Ist er nicht von Anfang an eine Zusammensetzung aus Hormonen, Kilos, Nervensystemen und ein Produkt der Evolution? Die Antworten: Ja und Nein!

    Schon der französische Philosoph Marc Bloch erzählte, dass sich Menschen verändern. Diese Veränderung schlägt sich dann bis in die feinsten Fasern des Körpers durch. Wie könnte das auch anders sein? Die geistige Umwelt der Menschen verändert sich radikal, die Hygiene, die Ernährung, das Klima – und ausgerechnet der Mensch sollte hier Fixum bleiben? Darüber mokierte sich schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der französische Soziologe Marcel Mauss. Trotz seines großen Namens wird Mauss mit seiner Meinung, dass der Körper auch Kultur und nicht nur Natur ist, von der Weltgesundheitsorganisation ignoriert, denn schließlich verdienen die Ärzte in der WHO ihr Geld nicht mit Philosophie, sondern mit dem Umsatz von Pharmaprodukten. Vor diesem Hintergrund ist auch die weltweite Anti-Raucher-Kampagne zu sehen. Klar doch, rauchen tötet Millionen von Menschen. Doch wissen Sie eigentlich, wer der größte Mörder für Menschen ist? Richtig. Die Armut. Doch wir beide, Sie und ich, werden den Tag nie erleben, an dem die Weltgesundheitsorganisation eine Kampagne lanciert unter dem Titel: »Börsenhandel tötet.« Selbst wenn gerade in diesen Jahren kristallklar ist, dass die Spekulation mit Lebensmitteln mehr Menschen ermordet als alle bisher erlebten Naturkatastrophen.

    Sie sehen: Unsere harmlosen Geburtsanzeigen entlarven ganz viel. Modelmaße sind nicht nur für die hungernden Schönheiten auf dem Laufsteg ständiges Thema, sondern auch relevant für die Weltpolitik.

    All diese Beispiele zeigen, dass, was seit einigen Jahren als Gesundheitsnorm daherkommt, mehr mit dem herrschenden Menschenbild als mit der objektiv vermessbaren Gesundheit eines Menschen zu tun hat. Oder gar der objektiv messbaren Schönheit eines Menschen. Allein die Idee, einen für alle Menschen dieser Welt geltenden Durchschnitt zu errechnen, ist absurd und passt eher zu einer kommunistischen Plan- statt zur freien Marktwirtschaft. Die Europäische Union ist an diesem Trend alles andere als unschuldig. Denn der freie Warenverkehr hat nicht nur die Gurke normiert, sondern mit dem freien Personenverkehr auch die Bildung und Kultur. Wie die Gurke gestreckt, wurde die humanistische Bildung gekürzt, alles im Namen eines vergleichbaren Kilo-, Jahrgangs- und Zentimeterverhältnisses, womit wir wieder beim Joghurt wären. Das Frischhaltedatum hat sich eben von der Ware auf den Menschen verlagert.

Als ich klein war, gab es keine Mädchen- oder Bubenabteilung in den Kaufhäusern, sondern nur eine »Kinderabteilung«. Meine Haare waren so rappelkurz, dass mich die meisten Menschen zunächst für einen Jungen hielten, was mich nicht die Bohne störte. Unser Schwimmunterricht war gemischtgeschlechtlich, und Jungs wie Mädchen trugen Badehosen (keinen Bikini, keinen Badeanzug). Jungs und Mädchen turnten zusammen, teilten Kabinen, T-Shirts und Spielzeuge. In der schulfreien Zeit spielten wir Raumschiff Enterprise, ich war

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