Die Vermessung der Frau
Körpergewicht in direktem Zusammenhang stehen ...
Und werden wir erst Mutter, haben wir die Möglichkeit, in unzähligen Publikationen nachzuschauen, ob denn unser Nachwuchs auch »normal« ist oder von einer der Normen der gerade herrschenden Medizinforschung abweicht. Die werdenden Mütter werden heutzutage einem richtigen Terrorregime der biologischen Aufzucht des wachsenden Lebens in ihrem Leib ausgesetzt. Ständig bekommen sie Ultraschallbilder, die sie von ihrem sinnlichen Gefühl der Zweisamkeit zu einer »Dinglichkeit« hinführen. Ich erinnere mich gut an meinen Widerstand gegen die Ultraschallbilder meiner Söhne. Ich wollte nichts sehen, ich wollte es spüren, und es war gut so. Nur die Tatsache, dass ich eine junge Mutter war, bewahrte mich auch vor all den Tests, denen mich die Vermesser mit ihren Perfektionstechniken aussetzen wollten. Mittlerweile wird die Schwangerschaft nicht nur als Krankheit, sondern als perfekt funktionierendes Labor für künftige Generationen aufgefasst. Sollte der Fötus oder das Baby den herkömmlichen Anforderungen nicht genügen, dann stellt uns das moderne Gesundheitssystem vor die Wahl, Gott zu spielen und den Fötus abzutreiben, oder das nicht der Norm entsprechende Kind in »Anstalten« abzuschieben. Was in Indien, Saudi-Arabien, Pakistan und China passiert, nämlich ein eigentlicher Femizid, d. h. die Ausrottung weiblicher Generationen, findet seine numerisch etwas geringere, doch ideologisch auf derselben Basis funktionierende Logik in der Abtreibung von behinderten Kindern. »Vom Aussterben bedroht« titelte die Süddeutsche schon vor Jahren in einem Bericht über Down-Syndrom-Kinder. Sie sehen: Die Selbstverständlichkeit, Leben zu Beginn materiell zu definieren, hat große politische, philosophische und ethische Konsequenzen.
Was als Kilo-, Jahrgangs- und Zentimeterverhältnis beginnt, endet dann logischerweise auch als Datumsreihe auf dem Friedhof:
»Martha Reichenbach, 13.3.1944 geboren und gestorben am 1. 8. 2011.«
Kein Wort zu den Eigenschaften, die den oder die Verstorbene zu Menschen gemacht hat. War sie ein fröhlicher Mensch? War sie glücklich? Was hinterlässt sie uns? Wer nur Zahlen schreibt, abstrahiert den Menschen, raubt ihm die Persönlichkeit und damit die Subjektivität. Ein noch grässlicheres Beispiel: So beendete das System auch mit eintätowierter Nummer das Leben eines KZ-Häftlings.
Die Vermessungsmanie hat eine Tradition, die wir einfach so, völlig unbedacht pflegen, ohne dass wir auch nur eine Sekunde daran verschwenden, sie als Ideologie, also als Macht und Herrschaft, zu interpretieren. Wir sehen eine logische Notwendigkeit, wo eigentlich keine sein sollte. Niemand schreibt uns nämlich vor, den Menschen, der neu in unser Leben getreten ist, vorwiegend unter Gesundheitsmaßstäben zu begrüßen oder zu wiegen. Niemand! Weshalb tun wir es doch? Eben. Weil es »normal« ist.
Wenn aber schon Anfang und Ende des Lebens durch Zahlen definiert werden, wie sieht es dann zwischen diesen beiden Zeitpunkten aus? Haben wir wenigstens in der Zwischenzeit unseres Lebens die Möglichkeit, frei und unbeschwert zu sein? Nicht wirklich, denn BMI und ein einfaches, scheinbar harmloses Zahlenverhältnis reichen aus, um lieber ins Fitnessstudio zu gehen statt ein Buch zu lesen.
90-60-90
Drei Zahlen, die genügen, um die Geschichte des weiblichen Körpers einfach aus der Welt zu schwatzen und so zu tun, als wäre alles immer schon so gewesen. Dabei sind solche Normvorstellungen erst seit dem 19. Jahrhundert populär. Dort verbanden sie sich übrigens gerne mit der Theorie, dass Frauen, weil sie ein leichteres Gehirn hätten, nie das Wahl- und Stimmrecht kriegen sollten.
Der weibliche Körper durchlief in der Geschichte die unterschiedlichsten Formen und Verrenkungen – das können selbst Evolutionsanthropologen nicht in Abrede stellen. Trotzdem tun wir heute so, als gäbe es das objektive Maß aller Dinge. Das Topmodel Gisele Bündchen (89-59-89), von vielen als schönste Frau der Welt verehrt, hat den Hüft- und Taillenumfang einer Dreizehnjährigen. Wer da jetzt ins Grübeln kommt, ob denn diese »Traumproportionen« für erwachsene Frauen wirklich so erstrebenswert und gesund sind, wie uns dies unzählige Studien und Bilder weismachen wollen, der hat noch einiges seiner Menschenqualität behalten. Etwas, was ja durchaus nicht selbstverständlich ist.
Weshalb sind solche Daten, Nummern, Codes und Chips so attraktiv?
Weil sie so
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