Die Vermessung der Frau
Sie ist ständig unter Druck – denn schließlich will sie die Schönste sein. Das erreicht eine Frau nur durch Verzicht auf all das, was Frauen normalerweise gerne mögen: Essen, Schlafen, Sex, Kinder haben, Aufräumen, Kochen, Denken und Schreiben. Die Schönheit ist wie kein anderes Betätigungsfeld Höhepunkt der Selbstausbeutung. Wie Ben und Barbie hungern sich auch Kevin und Carla als Praktikanten der Managementindustrie fast zu Tode.
Befeuert von den Marketingstrategen der Modehäuser und den Herstellern von Schönheits- und Gesundheitsprodukten, wird der moderne Mensch in die völlige Unmündigkeit gedrängt. Der Spiegel, nicht der Mensch, hat das Sagen. Der Spiegel ist der Priester, der Verkünder der Wahrheit, und dieser spricht: Du bist die Schönste hier, aber Schneewittchen hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen ist noch viel schöner als du! Heute ist Schneewittchen das momentan top geratene Model, die sieben Berge heißen Vogue, Cosmopolitan, Gala, In-Style, Annabelle, Elle und Sports Illustrated; die sieben Zwerge sind Diäticus, Botoxer, Nasallifter, Almased Turbo, Vita Fritz und Fitnessmarkt.
Die Geschichte der bösen Königin im Märchen wiederholt sich heutzutage als Massenphänomen. Attraktivitätsforscher vermessen Schönheit wie im spirituellen Wahn und schreien: »Wir wissen, wer die Schönste im Land ist! Das ist die mit den besten Proportionen und dem symmetrischsten Gesicht, möglichst ausgestattet mit Babyschnute, Vollbusen und schmalen
Hüften auf meterlangen Beinen! Und Sie gehören nicht dazu!«
Immerhin ist der moderne Spiegel seit dem Märchen bei den Gebrüder Grimm etwas friedfertiger geworden. Die Attraktivitätsspiegler raten nicht mehr zu töten, sondern eher zum Einkaufen. Sie raten zur Ich-Agentur statt zum »Tatort Sieben Berge«. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte aber ist, dass der Spiegel wie ein postmoderner Priester spricht, denn seine Psalmen bieten Absolution, Beichte und Ölung (mit dem Duft frischer Limonen) in einem! Er flüstert:
»Wir, die Dich liebende Wellnessindustrie, werden Dich erlösen aus deinem kläglichen Zustand der Mittelmäßigkeit. Vertrau uns. Reich uns Deine (Hoppla, die Haut auf deinem Handrücken beginnt ja schon zu schrumpeln!) Hand und wir verwandeln Dich für einen klitzekleinen Unkostenbeitrag in einen der schönsten Menschen.«
Und atheistisch-ästhetisch, wie der Spiegel nun mal ist, lässt er im Tabernakel der Schönheitsfanatiker selbstverständlich nicht mehr den Leib Christi, sondern huldigt einer feuchtigkeitsspendenden Anticellulitecreme. Ganz nebenbei beschäftigt der Spiegel so eine ganze Maschinerie von Schneidern, Korsettmachern, Apothekern, Salbenmischern, Schönheitschirurgen und Lebensmittelchemikern.
Neben einem derart mächtigen Spiegel hat das verblichene Bändchen des alten und der PR-Slogans unmächtigen Altphilologen und Philosophen Immanuel Kant mit seiner eher faltenfördernden Losung: »Wage, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen, und um Himmels Willen befreie Dich aus der Unmündigkeit, Dich stattdessen Deines Verstandes lieber Deiner Ananaspillen zu bedienen« eher schlechtere Wettbewerbschancen. Es gibt also eine gute und eine schlechte Nachricht für moderne böse Königinnen: Die Gute ist: Sie brauchen ihre Konkurentinnen
nicht mehr zu töten. Die Schlechte: Dafür hätten Sie auch gar keine Zeit mehr, denn Sie werden Ihr Leben damit beschäftigt sein, die Schönste zu werden, obwohl Sie insgeheim wissen, dass Sie sie niemals mehr werden!
Psychologisch entspricht die böse Königin der heute immer häufiger auftretenden Borderline-Störung. Sie ist somit ein Mensch, der sich zwischen Neurose und Psychose durchs Leben schlägt. Das Ich der Königin ist zutiefst verunsichert. Anstatt zu fragen: »Was tut die Schönste im ganzen Land?«, fragt sie ständig nach »Wer ist die Schönste im ganzen Land?« Gerade so, als könnte sie das nicht selbst spüren! Die Königin hat keine vita activa, also ein Handeln, sondern folgt einer vita objectiva, einem vom Spiegel definierten Sein. Die böse Königin ist von ihren eigenen Emotionen hin- und hergerissen, deshalb fragt sie immer wieder diesen blöden Spiegel, was sie denn nun wirklich sehen und denken soll.
Wäre ich die böse Königin und nicht eine erwachsene Frau, würde ich als Philosophin auch immer vor dem Spiegel stehen und fragen: »Haben die Evolutionsbiologen und Attraktivitätsforscher nun doch recht, und die Männer wollen
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