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Die Vermessung der Frau

Die Vermessung der Frau

Titel: Die Vermessung der Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Regula Stämpfli
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Hartmut Böhme spricht in seinem spannenden Werk »Fetischismus und Kultur« von »Vernunft macht zu wenig Vergnügen, als dass unsere Vergnügungen nicht unvernünftig wären.«

    Was brauchen Menschen? Sie brauchen Zugehörigkeit, sie brauchen eine Tätigkeit, und sie brauchen sinnliches Erleben. Wenn diese drei wichtigen seelischen Antriebe in die Perfektionierung des eigenen Körpers gesteckt und in ein ausschließlich materielles Wertesystem verlagert werden, beginnen große psychische Störungen. Schauen Sie auf die Liste der Zunahme psychischer Erkrankungen, sehen Sie es untermauert: Viele Menschen glauben dem Spiegel eher als sich selbst!

    Es wird gestrafft, geschnitten und gespritzt. Der große Gesellschaftstrend hin zur Schönheit wird von der Medizin zu allem Überfluss auch noch als Gesundheit verkauft! Dabei steht gerade »Gesundheit« auf äußerst wackeligen Beinen, wenn es darum geht zu definieren, was nun gesund ist und was nicht. Die medizinische Vernunft trichterte uns über Jahre ein: Abnehmen ist immer gut, mit Ausnahme der Magersucht. Doch nun ist in einem international anerkannten Fachblatt für Medizin zu lesen, dass Fettpolster das menschliche Leben verlängern. Nur Menschen mit einem Body-Mass-Index von über 30 sind nachweislich gefährdet, alles andere sei ok. Das, was uns also seit Jahren als Idealgewicht propagiert wurde, entwickelt sich als Lebensverkürzungsprogramm. Nur das Hüftgold bringt mehr Lebensjahre.

    Sie und ich wussten dieses instinktiv immer schon. Und trotzdem wird der Mager-Spiegel, der Kontroll-Spiegel, der Dominanz-Spiegel, der Distanz-Spiegel, der Rating-Spiegel nicht einfach verschwinden. Denn die Optimierungsstrategien für den modernen Menschen zeigen immer absurdere Formen, und wir ahmen sie alle nach.

    Schon Johann Wolfgang von Goethe wusste von der schwierigen Beziehung Körper, Mensch und Bild. Auch er spricht durch seinen listigen Mephisto eine klare Sprache zu unserem Thema:
    »Und doch gelingt’s ihm (dem Licht, d. h. Erkenntnis
und Güte) nicht,
da es,
so viel es strebt,
verhaftet an den Körpern klebt.
Von den Körpern strömt es,
die Körper macht es schön.
Ein Körper hemmt es auf seinem Gange,
so hoff’ ich,
dauert es nicht lange,
und mit den Körpern wird es
zugrunde gehn.«
    Die böse Königin ist auch hier in der Falle. Ich gehe so weit zu behaupten, dass der Körperkult in der westlichen Welt – und dies wird in den Wissenschaften viel zu wenig reflektiert und populär diskutiert – der Ersatz ist für die traditionellen Religionen. Die Menschen von heute müssen ihr Leben via Gnade der Geburt und harter Schönheitsarbeit richtiggehend erkämpfen. Diese seltsame Sinnsuche im Fitnesstudio findet die zusätzliche Heiligsprechung durch jedes Gesundheitsministerium. Der Körper als Religion bietet gegenüber anderen Religionen zudem den Vorteil, dass dieser Glaube nicht gottgegeben ist, sondern jeden Tag neu gestaltet und geformt werden kann. Zudem ist der Kauf eines Spiegels billiger als der Bau einer neuen Kirche.

Selbst hinter so banalen Dingen wie einer Geburtsanzeige entlarvt sich die herrschende Vermesser-Ideologie, und beweist, dass unsere Vermessung nicht erst im Erwachsenenalter beginnt.

    »Wir freuen uns, Ihnen die Geburt unserer Tochter Lea, 3800 Gramm, 50 Zentimeter, geboren am 15.4.2013 um 04.55 Uhr, mitzuteilen.«

    Und, fällt Ihnen etwas auf? Richtig! Wir alle beginnen ganz normal unser Leben als Kilo- und Zentimeterverhältnis mit einem exakten Geburtsdatum. Niemand stört sich daran, niemand findet das erstaunlich, obwohl die Kilo- und die Zentimeterangaben erst seit wenigen Jahrzehnten bei Neugeborenen überhaupt eine Rolle spielen. Auch die Tatsache, dass wir unsere Geburtstage feiern, entstammt erst jüngeren Datums. Noch heute hat der Namenstag in z. B. Griechenland größere Bedeutung als der Geburtstag.
    Dieses anfängliche Kilo-, Jahrgangs- und Zentimeterverhältnis lässt uns dann ein Leben lang nicht mehr in Ruhe. Denn nach dieser ersten Vermessung unseres Körpers folgen unzählige weitere. Der Schularzt vermisst uns, vergleicht uns mit dem Durchschnitt und zieht – wie in meinem Fall – immer wieder seine Augenbrauen hoch (ich war für ein Mädchen immer zu groß). Wir kriegen dann ungefragt einen Body-Mass-Index verordnet, der uns das ganze Leben lang verfolgt. Selbst beim Gynäkologen muss ich mich wiegen, Sie auch? Doch vielleicht bin ich ungerecht, und es gibt ein medizinisches Geheimnis, dass Unterleib und

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