Die Vermessung der Frau
These überraschen, dass Weiblichkeit und Sachlichkeit zwei Namen für ein und dasselbe sind.« (Peter Sloderdijk, Zeilen und Tage, S. 172)
Der Trend zur neuen Sachlichkeit der Frauen und dem Verschwinden der realen Frauen zeigt sich nirgends so klar wie im Gipfel der Körpergefängnisse für Frauen namens Size Zero.
Hier wird die bittere Körperideologie der Ausrottung von Weiblichkeit bis in und über den Tod hinaus inszeniert. Size Zero ist die neueste Variante des Schlankheitswahns. Sie entspricht der deutschen Größe 32 und wäre eigentlich normal für ein zwölfjähriges Mädchen. Leider wird diese Perversion schon von vielen Frauen, vor allem im Mode- und Designbusiness, als »normal« empfunden: Da führen Milliarden von Menschen einen täglichen Überlebenskampf um Nahrung, während in der westlichen Welt der »verhungernde« Körper als Schönheitsideal gepriesen wird.
Machtverhältnisse schreiben sich buchstäblich in den menschlichen Körper ein. Franz Kafka beschreibt das in seiner »Strafkolonie«. Ein Offizier zeigt dem Besucher eine Maschine. Auf dieser werden alle zum Tode Verurteilten hingerichtet. Die Angeklagten werden auf ein bewegliches Brett geschnallt, auf dem ihnen das Urteil sprichwörtlich auf den Leib geschrieben wird. Die Unwissenden, die während des Prozesses nie erfahren, worin ihr Verbrechen eigentlich bestand, werden bis zum grässlichen Tod durchbuchstabiert. Der Körper trägt also auch über den Tod hinaus noch die Zeichen der Schuld und wird so zur Unheil verkündenden Warnung.
Die moderne Strafkolonie ist heutzutage der Laufsteg der vermeintlich Schönen, und die jungen Frauen sind dabei die Ahnungslosen. Der einzige Unterschied zu Kafka besteht darin,
dass die Models nicht aufs Brett gespannt werden, sondern sich freiwillig von der Todesmaschine, die Hunger heißt, so lange durchbuchstabieren lassen, bis ihre Maße dem herrschenden Ideal entsprechen.
Selbst Kafka, der auch kein durchschnittlicher Mensch war, hätte sich verwundert die Augen gerieben, wenn er die Lieblingsmahlzeit vieler Models gesehen hätte: in Orangensaft getränkte Wattepads. Wahrscheinlich würden die Models sogar aufhören zu atmen, wenn man ihnen erzählen würde, dass Sauerstoff dick macht.
Jedes Mal, wenn wieder eines der halbwegs bekannten Mädchen am Hungertod stirbt, gibt es einen Aufruhr in der Presse und in der Modeindustrie und scheinheilige Bekundungen, solch tragische Fälle nie mehr vorkommen zu lassen, um kurz darauf genau so weiterzumachen, als sei nichts passiert.
Der Schlankheitswahn der heutigen Zeit, der seinen Anfang schon in den 60er Jahren mit Twiggy als Schönheitsideal genommen hat, ist in seiner Radikalität kaum mehr zu steigern. Der Trend hin zum Verschwinden des weiblichen Körpers korrespondiert mit dem ökonomischen und politischen Aufstieg der Frauen – dies ist alles andere als ein Zufall. Denn der Aufstieg der Frauen bedeutete nicht den Sieg der Mütterlichkeit, über die anderen, der unkontrollierbaren, der freien, der lustvollen Frau, der Fruchtbarkeitsgöttin, der weisen Frau, nein: Er war ein Aufstieg, der die Frauen über die Jahrzehnte hinweg zu den besseren Männern machte. So ist es eigentlich logisch, dass Frauen so dünn werden, wie ihnen dies die häufig homosexuellen Designer-Männer und die in den Hochglanzzeitschriften so cool inszenierten Schwestern immer wieder zuflüstern. Zudem führt der verinnerlichte Kamerablick der meisten Frauen dazu, dass sich auch normalschlanke Frauen immer etwas zu dick finden – glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.
Obwohl die Wissenschaft immer genauer definiert, was ein »normaler« Body-Mass-Index ist, was also gemeinhin als gesund und erstrebenswert gilt, unterlaufen Schauspielerinnen
und Models diesen Wert wie Limbotänzer die tief gesetzte Stange. Aber nicht nur die menschlichen Kleiderbügel der erfolgreichen Mode- und Kulturindustrie kasteien ihre Körper bis zum Verlust ihrer Substanz, nein, auch die normalen Frauen in Business, Politik und im Haushalt müssen sich ständig disziplinieren.
Denn zur Leistung einer erfolgreichen Frau gehört nicht nur ihre Kompetenz, sondern ihr gutes, d. h. schlankes Aussehen. Es gibt nirgendwo in der westlichen Welt eine erfolgreiche Managerin, Politikerin, Intendantin, Chefredakteurin, welche den natürlichen Zerfall des Alters locker, leicht und akzeptabel leben kann. Zum Leistungsausweis aller erfolgreichen Frauen gehört der Zwang, sich einigermaßen
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