Die Vermessung der Frau
leide, geben mir ungefragt Ratschläge und meinen unisono auf meine Bemerkung: »Das ist keine Allergie, sondern ein Muttermal.« »Ach, das können Sie nun mit Laser locker wegmachen lassen!« Wenn ich dann in aller Selbstverständlichkeit meine: »Um Himmels willen, alles, nur das nicht!«, werde ich wie eine fremde Spezies im Zoo bestaunt. So werden Defekte kreiert. Denn inzwischen sind es nicht nur die besorgten Kassiererinnen, sondern immer häufiger auch die Gesundheitszeitschriften, die vor Muttermalen warnen. Schließlich versteckt sich Hautkrebs besonders gerne hinter einer an sich gutartigen und seit Jahrzehnten geliebten Hautpartie.
Die harmlose Muttermalsgeschichte zeigt weniger harmlose Grundtendenzen. Wir impfen heutigen Menschen unsere Vorstellungen von »gesunden« Menschen ein und beeinflussen damit künftige Generationen. Ist das nicht krank?
Wir pathologisieren Unregelmäßigkeiten im individuellen Aussehen als körperliche Makel. Das beginnt bei der Zahnspange, die mittlerweile alle amerikanischen Kinder mit denselben Kiefern in die Kamera lächeln lässt (außer sie stammen aus der Unterschicht), geht weiter über die Ohrkorrekturen, Lippenstellungen, Naserichten etc. Selbstverständlich »verschönern« all diese Interventionen die betroffenen Menschen. Ebenso selbstverständlich wird so das Bild der Menschen von klein auf normiert. Denn wenn jeder sichtbare Unterschied ausgemerzt ist, dann fehlt die individuelle Unterscheidbarkeit.
»Hässlich« steht für »ungesund«, »schön« für »gesund«. Im Namen der Gesundheit wird die herrschende Ideologie des Schönheitshandelns nicht nur den Lebenden, sondern auch den noch nicht geborenen Menschen sprichwörtlich eingepflanzt. Die Verfügbarkeit von Kindern ist weit fortgeschritten – besonders in den USA und in Israel, wo Leben oft nicht nur als das höchste Gut, sondern auch als das der Gemeinschaft anzupassende Gut angesehen wird.
Ein geistig behindertes Mädchen namens Ashley aus den USA macht im Januar 2007 weltweit Schlagzeilen. Das Bild des Mädchens, das die Eltern Pillow Angel nennen, geht um die Welt. Ashley werden in mehreren Operationen Gebärmutter und Brustdrüsen rausgeschnitten, und mit einer Hormonbehandlung wird das Wachstum gestoppt. Ashley kann als behinderter Mensch ihr Leben als Kleinkind verbringen. Sie bleibt leicht, hört nicht auf zu lächeln, sie wird durch Erwachsenenhormone nicht gestört, ihre nicht-existierenden Brüste schränken das Brustkrebsrisiko ein, sie versteht nichts, sie gefällt ihrer Umgebung, sie bringt Liebe und Freude, und sie verursacht ihren Betreuern keine Rückenschmerzen. Ashley »muss« nicht erwachsen, alt, schwer, mühsam, krankheitsanfälliger werden. Sie ist als »leichtes Mädchen« zwar behindert, aber keine Störung, sondern vor allem Freude. Ashley ist sprechendes Zeugnis eines Menschen, dessen Körper so umfunktioniert wird, dass er anderen Menschen und sich selbst nicht zur Last fällt. Es ist ein Bild eines Menschen, der in liebevoller Obhut verantwortungsvoller Eltern leicht, lächelnd, nichts verstehend, aber allen Freude bringend, maschinell gut unterstützt, relativ leicht zu betreuen, für das Sozial- und Gesundheitssystem eine Minimalbelastung darstellt.
Mehr und mehr werden also Schönheits-, Gesundheits- und Sozialideale nicht einfach von der jeweiligen Generation übernommen, sondern sie sind schon in Fleisch und Blut übergegangen.
Was heute noch als Gesellschaft, Kultur und individuelles Zeichen gilt, ist in zwei, drei Generationen Biologie. Die Menschen werden via Biologie den gesellschaftlichen Vorstellungen angepasst und nicht umgekehrt. Die neuen Religionen heißen dann: Gesundheit und Wohlbefinden auf dem Weg zu einer schönen neuen Welt. Das ist nur wenigen Menschen bewusst, sie reden lieber von der digitalen Demenz, anstatt zu realisieren, dass wir mitten im Prozess der biologischen Demenz stecken. Und wir reden viel zu wenig darüber. Hier nochmals Hannah Arendt: »Es zeigt sich nämlich, dass die ›Wahrheiten‹ des modernen wissenschaftlichen Weltbilds, die mathematisch beweisbar und technisch demonstrierbar sind, sich auf keine Weise mehr sprachlich oder gedanklich darstellen lassen.« (Hannah Arendt, Vita Activa, S. 411)
Dabei wäre es wichtig, uns über all die Phänomene, die uns entgegenstarren, mal ausführlich zu unterhalten und Grenzen zu setzen. In den Diskussionen darüber muss ich mich immer ziemlich sophistischen Fragen stellen.
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