Die Vermessung des Körpers
außer Verhältnis zur Dringlichkeit des Problems. Einige andere Sinne können wir zwar blockieren (man denke an Augenmasken und Ohrenstöpsel), doch ist Schmerz derjenige Sinn, den wir zu unserem persönlichen Wohlbefinden am häufigsten zu beeinflussen versuchen. Wären menschliche Wesen tatsächlich am Reißbrett konstruiert und nicht Ergebnis einer Entwicklung, dann würde ein guter Ingenieur einen Schalter für uns entwerfen, mit dem sich der Schmerz ausschalten ließe, wenn seine Aufgabe erfüllt ist.
Fassen Sie sich an Ihre eigene Nase
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Experiment – Erleben Sie die Tiefenwahrnehmung
Hier ist ein einfaches Experiment, das zeigt, dass Sie sensorische Fähigkeiten besitzen, die weit über die fünf »großen« Sinne hinausgehen. Setzen Sie sich und schließen Sie die Augen. Bleiben Sie einen Moment lang ruhig sitzen und lassen Sie die Hände baumeln. Dann heben Sie eine Hand und berühren mit dem Zeigefinger Ihre Nasenspitze.
Versuchen Sie es, bevor Sie weiterlesen.
Wer nicht gerade einen Gehirnschaden hat, kann diese Bewegung leicht ausführen. Dazu braucht man eindeutig einen Sinn, aber welcher der fünf Sinne hat Ihnen dabei geholfen? Keiner. Es handelt sich um einen völlig anderen Mechanismus.
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Das oben beschriebene Experiment spricht den obskursten und indirektesten Ihrer Sinne an, die sogenannte Tiefensensibilität. Es ist der Sinn, mit dem Sie erkennen, wo sich bestimmte Teile Ihres Körpers im Verhältnis zu anderen befinden. Die Tiefenwahrnehmung ist eine Art Meta-Sinn, die das Wissen des Gehirns um die aktuelle Muskelaktivität mit einem Gespür für die Größe und Gestalt des Körpers kombiniert. Wie das eben durchgeführte Experiment zeigt, ist es ein Mechanismus, der Sie in die Lage versetzt, Ihre Hand sicher zu einem anderen Körperteil zu führen, ohne dabei Ihre fünf Grundsinne zu gebrauchen.
Andere Tiere verfügen über eine noch größere Bandbreite von Sinnen als wir. Haie zum Beispiel können elektrische Felder erkennen, die von den Nervensystemen ihrer Beutetiere erzeugt werden. Zugvögel nutzen das Erdmagnetfeld, um ihre Reiseroute zu bestimmen – sie besitzen so etwas wie einen eingebauten Kompass. Tiere wie etwa die Fledermaus, die Echolot verwenden, gebrauchen zum Hören dieselben Sensoren wie wir, doch bedienen sie damit einen völlig anderen Sinn, der sie näher an den dreidimensionalen Eindruck des Sehens heranführt als die bloße Wahrnehmung von Geräuschen.
Die Beschleunigung spüren
Wenn Sie auf der oben erwähnten Achterbahn durchgerüttelt werden, ist ein Sinn besonders gefragt: der nämlich, der die Beschleunigung wahrnimmt. Häufig wird er als Teil des Gleichgewichtssinnes dargestellt, doch ist dies lediglich ein Beispiel dafür, wie Biologen bisweilen Sinn und Sinnesfunktion durcheinander bringen. Der Hauptzweck der Beschleunigungserkennung ist zwar, dabei zu helfen, das Gleichgewicht zu halten, doch was wir spüren, ist die Beschleunigung.
Diese Wahrnehmung ist Ihnen möglich, weil sich in Ihrem Innenohr eine Flüssigkeit befindet, die mit der Bewegung herumschwappt. Sie fließt über kleine Haarzellen, die durch die Bewegung der Flüssigkeit mitgezogen werden und Ihrem Gehirn mitteilen, wie Sie sich bewegen. Es ist das Äquivalent des Körpers zu den Beschleunigungsmessern in modernen Smartphones, die dadurch immer »wissen«, wie sie gerade gedreht und gewendet werden. Außerdem ist die Flüssigkeit in unseren Ohren der Grund dafür, dass man immer noch etwas wackelig auf den Beinen ist, wenn man aus der Achterbahn steigt. Eine Flüssigkeit ist für ein biologisches System ein sehr effektiver Mechanismus zur Beschleunigungserkennung – doch die Kehrseite ist, dass er eine Weile braucht, um sich wieder zu stabilisieren, wenn alles einmal kräftig in Unordnung geraten ist.
In der Achterbahn ist man hauptsächlich Spielball zweier Kräfte: der Gravitation, die einen zum Erdmittelpunkt zieht, und der Kraft, die der Wagen auf einen ausübt, wenn er einen auf der rasenden Fahrt über die Schienen in alle Richtungen schubst und zerrt. Dieses Schubsen und Zerren, also die Belastung des Körpers durch Beschleunigung, wird oft als g-Kraft bezeichnet (»g« für Gravitation).
Gewicht und Masse
Die g-Kraft, die man spürt, ist im Grunde eine Art künstliches Gewicht. »Gewicht« ist ein Wort, mit dem man in der Wissenschaft vorsichtig umgehen muss. Das Gewicht ist die Kraft, die etwas durch Gravitation erfährt, aber wir neigen dazu, es als alternativen
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