Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
mich dem Stuhl, legte meine Tasche und meine Jacke auf dem Boden ab und beobachtete, ob das Geräusch eine Reaktion hervorrief. Aber nichts regte sich.
Ich hörte, wie draußen eine der Schwestern den Polizeibeamten ermahnte. Sie sprach mit starkem karibischem Akzent. » Oh nein, Schätzchen. Kein Handy bitte. Sie kennen doch die Regeln.«
Vorsichtig ließ ich mich auf dem Stuhl nieder. Von hier aus hatte ich den massigen Oberkörper des Polizisten im Blick, der sich in das Schwesternzimmer hineinbeugte und, eine Hand ans Ohr gepresst, deren Telefon benutzte. Seine Lederjacke wellte sich über dem gebeugten Rücken und spannte in den Nähten wie ein Leinensegel bei starkem Wind.
Während ich ihn beobachtete, kam die Schwester herein und versperrte mir die Sicht. » Sie können ruhig seine Hand nehmen«, ermutigte sie mich. » Nur keine Angst.«
Geoffs Hand zu halten war so ziemlich das Letzte, was ich tun wollte, aber das konnte ich vor der Schwester natürlich keinesfalls zugeben. Sie wartete und lächelte mich aufmunternd an. Zaghaft berührte ich seinen Handrücken und bedeckte ihn mit meiner Hand. Er war heiß und trocken, fühlte sich jedoch trotzdem klebrig an. Ich drehte seine Handfläche nach oben und sah in den Rillen seiner Ballen und Fingerkuppen dunklen Schmutz, der das Profil seiner Fingerabdrücke betonte. Außer dem Schmutz war auch dunkles, eingetrocknetes Blut erkennbar. Seine Fingernägel waren damit verkrustet. Ich schauderte und legte mit flauem Gefühl seine Hand wieder ab.
Das alles war vor meinem Haus geschehen. Vielleicht sogar meinetwegen.
Ich lehnte mich an die Stuhllehne und verschränkte die Arme. Dabei presste ich die Hand, die Geoff berührt hatte, so fest zusammen, dass sich meine Fingernägel ins Fleisch eingruben. Mit aller Macht versuchte ich, die Erinnerung an seine heiße, leicht klebrige Haut auszulöschen, die ich noch immer spürte wie ein Amputierter sein abgenommenes Körperglied. Dieses Phantomgefühl wurde ich einfach nicht los. Ich starrte auf die gegenüberliegende Wand und wünschte mir ein Fenster herbei. Ich fragte mich, wer wohl diesen an den Inhalt von Babywindeln erinnernden Beigeton ausgewählt hatte. Ich überlegte, warum ich eigentlich hier war. Ob Geoff mir jemals verzeihen würde, wenn er wieder aufwachte? Würde ich mir selbst vergeben können?
Ich weiß nicht, wie lange ich so dagesessen hatte, als ich plötzlich Blakes Stimme hörte. In der Isolation der Intensivstation war es schwer, ein Zeitgefühl zu bewahren. Blake sprach vor der Tür leise mit dem Polizisten, sodass ich nur den Tonfall mitbekam, der sich ernst anhörte. Ich erkannte seine Stimme, noch ehe ich ihn sah. Als ich mich mit dem Stuhl zurücklehnte und versuchte, ihn zu erspähen, sah ich direkt in die Gesichter der beiden Männer. Die vom Leben gezeichneten Gesichtszüge des älteren Mannes wirkten ausgesprochen feindselig, und Blake schaute finster drein. Ohne mir zuzunicken, stieß er den anderen Beamten an und verließ als Erster die Intensivstation. Ich fühlte mich ertappt und hatte das kindische Bedürfnis, ihnen hinterherzurennen und nachzurufen: » Ich habe gar nicht zugehört! Was ihr über mich redet, ist mir sowieso egal. Es interessiert mich überhaupt nicht.«
Neben mir schlief Geoff ungerührt weiter. Seine Eltern hatten inzwischen einer Operation zugestimmt, und Dr. Holford war mit dem Chirurgen dagewesen, um sich ein Bild von ihm zu machen. Währenddessen war ich unaufgefordert hinausgegangen und stand nun allein im Flur. Ich konnte an nichts anderes denken als daran, dass Geoff hier nicht liegen würde, wenn ich mich anders verhalten hätte. Wenn ich besser Nein sagen könnte. Wenn ich ihn ins Haus gelassen und mit ihm geredet hätte. Wenn er es auf eine andere abgesehen hätte. Wenn ich an einer anderen Schule unterrichten würde. Wenn ich gar nicht erst Lehrerin geworden wäre. Die Schuldgefühle lasteten schwer auf mir. An ein Gespräch war nicht zu denken. Ich lehnte an der Wand, während die Schwestern in aller Ruhe ihren Aufgaben nachgingen, ohne mich zu behelligen. In der Nachbarkoje lag ein Sturz aus großer Höhe von einem ungesicherten Gerüst, der zwischen Leben und Tod schwebte. Ein schwerer Schlaganfall auf der anderen Seite hatte inzwischen das Schlimmste überstanden. Um beide Patienten drängten sich Besucher, die entweder aschfahl vor Entsetzen aussahen oder mit dankbar gerötetem Gesicht herumstanden. Zu Geoff war außer mir niemand gekommen. Seine
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