Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
Vom Netzwerk:
entscheidend. Seien Sie also darauf gefasst, dass er nicht im Bett sitzen und mit Ihnen plaudern wird.«
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie es mir ginge, wenn ich tatsächlich eine enge Beziehung zu Geoff hätte, wenn er mein Freund wäre, mein Geliebter. Würde mich dann Dr. Holfords knappe Art eher beruhigen oder irritieren? Würde ich weinen?
    Vor einer Tür mit der Aufschrift » Intensivstation« blieb Dr. Holford stehen. Da neben der Tür ein Schild mit einem durchgestrichenen Mobiltelefon hing, wühlte ich in der Tasche nach meinem Handy, während der junge Arzt den Code in den Türöffner eingab. Als wir den Raum betraten, fiel der Geräuschpegel sofort ab. Das Licht war gedämpft, im angenehmen Gegensatz zu den grellen Leuchtstoffröhren, die das übrige Krankenhaus so trostlos wirken ließen. Sechs Einzelkojen gingen von einer Überwachungszentrale ab, in der zwei Schwestern saßen und Tabellen ausfüllten. Beim Anblick von Dr. Holford hellte sich ihre Miene auf.
    » Wie halten Sie durch?«, fragte ihn die eine.
    » Nicht so gut.« Dann erläuterte er: » Doppelschicht. Fast geschafft. Fünfundzwanzig Minuten Schlaf in zweiundzwanzig Stunden.«
    Das erklärte also die roten Augen und den erschöpften Eindruck. Ich nickte und lächelte matt. Mein Interesse an Dr. Holfords Arbeitstag ließ schlagartig nach, als ich vor einer der Kojen einen zeitungslesenden Mann sitzen sah. Das letzte Mal war ich ihm in der Kirche zum Gedenkgottesdienst für Jenny begegnet, wo er neben Blake stand. Er war groß und kräftig, hatte eine Boxernase und hockte verkrampft auf einem für ihn viel zu kleinen Stuhl, ein Bein weit von sich gestreckt. Dr. Holford stieg behutsam darüber hinweg, wobei er mich an einen Storch erinnerte.
    » So, hier haben wir ihn«, verkündete er und führte mich hinein. Wortlos schlich ich mich an dem Polizisten vorbei und hatte dabei riesige Angst, dass er mich aufhalten oder fragen könnte, was ich hier zu suchen habe. Ich vermied es, ihm in die Augen zu schauen, bemerkte jedoch sehr wohl, dass sein Blick mich verfolgte. Selbst als ich schon am Fußende von Geoffs Bett stand, rechnete ich immer noch damit, erklären zu müssen, weshalb ich eigentlich hier war. Dr. Holford kontrollierte die Geräte, die links und rechts neben dem Bett vor sich hin surrten, sodass ich unbeobachtet einen ersten Blick auf Geoff werfen konnte. Das verschaffte mir Gelegenheit, mich kurz zu sammeln, denn der Anblick war erschütternd.
    Hätte der Arzt mir nicht gesagt, dass es Geoff war, der dort lag, hätte ich ihn sicher nicht erkannt. Sein Gesicht war geschwollen, verfärbt und glänzte unnatürlich. Seine Augenlider waren schwarz und blutunterlaufen. In seine Nase führte ein Sauerstoffschlauch, und ein anderer Schlauch hing an seinem Mundwinkel. Fast der gesamte Kopf war bandagiert, nur ganz oben schaute ein verfilztes Haarbüschel heraus. Der Kontrast zu seinem übrigen Körper war schockierend. Vom Hals abwärts sah er gesund und athletisch aus– ganz wie es seinem Schönheitsideal entsprach. Seine Arme lagen mit den Handflächen nach unten reglos auf der Bettdecke, die ihm bis zu den Achseln reichte. Sein Oberkörper war unbekleidet.
    Ich musste einen erschrockenen Laut von mir gegeben haben, denn Dr. Holford drehte sich zu mir um.
    » Ich habe Sie ja gewarnt. Sieht gar nicht gut aus, oder?«
    Ich räusperte mich. » Wie geht es ihm denn? Sein Zustand… Bessert er sich?«
    » Unverändert.« Der Arzt schaute mich an, und seine Miene wurde zusehends offener. Neben dem scharfen Verstand kam nun eine zurückhaltende Freundlichkeit zum Vorschein. » Setzen Sie sich doch einfach, und bleiben Sie ein Weilchen bei ihm. Reden Sie mit ihm, wenn Sie mögen.«
    » Hilft das denn?«
    » Vielleicht hilft es Ihnen.« Dann verschwand er wieder und murmelte im Vorbeigehen noch etwas in Richtung der Schwestern.
    Auf der Intensivstation war es warm und stickig. Ich zog meine Jacke aus und legte sie mir über den Arm. Ich traute mich nicht so recht, mich auf den Stuhl zu setzen, der am Kopfende des Bettes stand, da ich ja gewissermaßen eine Hochstaplerin war. Der Stuhl war schließlich für diejenigen gedacht, die zusammen mit den Ärzten und Schwestern um das Leben ihrer Lieben kämpften und ihnen ihre Gebete und Versprechen zuflüsterten. Zum allerersten Mal verbrachte ich gerade freiwillig Zeit mit Geoff. Aber ich konnte mir nichts vormachen– dass er im Koma lag, machte es ein ganzes Stück leichter.
    Vorsichtig näherte ich

Weitere Kostenlose Bücher