Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Eltern seien zu gebrechlich, hatten die Schwestern gesagt. Ich wusste nicht, ob er Geschwister hatte. Eigentlich wusste ich überhaupt nichts über ihn, außer dass er mich mochte und mich dazu bringen wollte, ihn zu mögen. Aber das hatten wir beide nicht geschafft. Ich kam allmählich zu dem Schluss, dass ich wahrscheinlich überzogen reagiert hatte. Ich ließ alles, was er mir gegenüber gesagt oder getan hatte, noch einmal Revue passieren und sah es nun in einem ganz anderen Licht. Er hatte es doch nur gut gemeint, dachte ich. Er wollte bestimmt niemandem wehtun.
Ein leises Klopfen an der Tür ließ mich zusammenzucken.
» Entschuldige die Störung. Können wir kurz reden?« Es war Blake– mit ernster Miene.
Ich stand langsam auf und reckte meine vom langen Sitzen ganz steif gewordenen Glieder. Seine Wortwahl ärgerte mich auf Anhieb. Wobei meinte er denn zu stören? Und was wollte er überhaupt von mir? Als ich ihm durch die Station zu einer Tür mit der Aufschrift » Angehörigen-Zimmer« folgte, spürte ich, wie sich die schlechte Laune in mir zusammenballte wie eine Gewitterwolke. Die Glasscheibe in der Tür war sorgfältig mit einem tristen grünen Vorhang verhängt, um wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu schaffen. Der Raum war klein und mit Möbeln vollkommen zugestellt, aber wenigstens hatte er ein Fenster. Man blickte allerdings nur auf den Schornstein der Verbrennungsanlage, der gerade dunkelgrauen Rauch in den freundlich hellen Tag blies.
Blake wartete an der Tür und schloss sie sorgfältig hinter mir. Ich schlängelte mich zwischen den Stühlen hindurch und um einen Kaffeetisch herum und trat schließlich ans Fenster, damit ich hinausschauen konnte.
» Ziemlich überraschend, dich hier zu sehen.«
Ich wandte mich nicht um. » Wieso überrascht dich das?«
» Ich dachte, du mochtest ihn nicht«, antwortete er betont beiläufig.
» Tue ich auch nicht.«
» Würdest du dich bitte umdrehen?«
Obwohl als Frage formuliert, war es eindeutig als Anweisung gemeint. Ich drehte mich um und lehnte mich gegen das Fensterbrett. Blake nahm an einer Seite des Kaffeetisches Platz. Da wurde mir schlagartig klar, dass das Zimmer umgeräumt worden war, um einen improvisierten Vernehmungsraum zu schaffen. Deshalb standen also die Stühle so gedrängt und alles wirkte so unsortiert.
» Komm, setz dich«, sagte Blake und deutete auf den Stuhl ihm gegenüber.
Doch ich blieb stur. » Ich möchte lieber stehen bleiben. Gesessen habe ich ja schon eine Weile.«
» Ach, tatsächlich?«
» Ja«, erwiderte ich befangen. » Ich musste herkommen und sehen, wie es Geoff geht. Er… Er hat ja sonst niemanden.«
Blake lehnte sich auf dem niedrigen Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. » Ah, verstehe. Wieder jemand Neues, für den du dich aufopfern kannst. Kein Wunder, dass du hier einen auf Florence Nightingale machst.«
» Was soll denn das heißen?« Ich war froh, dass ich mit dem Rücken zum Licht stand, denn mein Gesicht war knallrot angelaufen.
» Nach diesem Muster läuft das bei dir immer ab, oder? Jemandem, den du kennst, passiert etwas Schlimmes, und du musst dich dann um ihn kümmern.«
Missmutig schaute ich ihn an. » Zum Beispiel?«
» Zum Beispiel diese klitzekleine Sache mit deinem Bruder?« Er griff unter den Stuhl und zog die Zeitung hervor, die sein Kollege zuvor gelesen hatte. Es war ein Boulevardblatt mit fetten schwarzen Überschriften. Von meinem Platz aus konnte ich die Schlagzeile eines doppelseitigen Beitrags lesen: Unglückliche Lehrerin: Ich habe Jenny gefunden, aber meinen Bruder nicht. Und darunter ein Bild von mir, eine Nahaufnahme vor der Schule, auf der ich mich mit verärgerter Miene von der Kamera abwende.
» Wann hattest du denn vor, uns davon zu erzählen?«, fragte Blake und hielt mir die Zeitung hin.
Ich stieß mich vom Fenster ab, lief wie ferngesteuert zum Tisch und griff nach der Zeitung. Diese ekelhafte Carol Shapley. Sie hatte offenbar im Eiltempo gearbeitet, um unser Interview derart schnell in die Zeitung zu bekommen. So sah also bei ihr eine wohlwollende Story aus.
Mit erstickter Stimme erzählte mir Sarah Finch, wie sie die Leiche ihrer Lieblingsschülerin fand. Da sie selbst einen schweren Schicksalsschlag verkraften musste, ist ihr das Thema Verlust nur allzu vertraut. » Ich weiß, wie es Jennys Familie jetzt gehen muss«, sagte sie mit Tränen in den Augen. » Aber wenigstens haben sie eine Leiche, die sie begraben können.«
» Das
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