Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
habe ich überhaupt nicht gesagt«, murmelte ich, hauptsächlich zu mir selbst, und überflog hastig die Absätze des Beitrags. Sie hatte buchstäblich nichts ausgespart: Charlies Verschwinden, Mums Nervenzusammenbruch, Dads Tod, Jennys Tod– aber die Geschichte an sich war fast nicht wiederzuerkennen, aalglatt poliert und für die sensationshungrige Leserschaft in leicht verdauliche Häppchen zerhackt. Ich las weiter bis zur dritten und letzten Seite, wo Carol darüber spekulierte, was Jenny möglicherweise zugestoßen war und welche frommen Hoffnungen ich für Jennys Eltern hegte ( » Ich hoffe, dass sie beisammenbleiben und sich unterstützen. Selbst wenn das Schlimmste überstanden ist, werden sie es niemals vergessen.«) Nachdem ich diese Zeilen gelesen hatte, schloss ich für einen Moment die Augen. Ich musste sie mir nicht noch einmal durchlesen– wahrscheinlich hätte ich sie sogar wortwörtlich zitieren können. Trotzdem blätterte ich noch einmal zurück zum Anfang und starrte auf den Text, ohne die Worte wahrzunehmen. Nur mit großer Mühe gelang es mir, die Zeitung abzulegen und dem Blick zu begegnen, der mich die ganze Zeit fixierte.
» Es tut mir leid, dass ich nichts über meinen Bruder gesagt habe, aber ich dachte nicht, dass es von Interesse ist«, sagte ich schließlich, setzte mich und umfasste meine Knie, um Halt zu finden.
Er hob die Augenbrauen. » Wirklich? Ich hätte aber sehr gern vor den Medien davon erfahren. Wie haben die überhaupt Wind davon bekommen?«
In dumpfem Tonfall berichtete ich ihm von Carol und wie hartnäckig sie war. Ich erklärte ihm, dass ich keinen anderen Ausweg gesehen hatte, als mich kooperativ zu zeigen.
» Sie hat mich belogen«, sagte ich und schnippte mit dem Fingernagel gegen den Zeitungsrand. » Sie hat mir versichert, weder meinen Familiennamen zu erwähnen, noch sonst etwas, das Rückschlüsse auf meine Person zulässt. Deshalb gibt es auch kein gestelltes Foto. Ich weiß nicht, wann sie das hier aufgenommen haben. Wahrscheinlich an dem Tag, als alle die Schule belagert haben– an dem Tag, nachdem Jenny gefunden worden war.«
» An dem Tag, nachdem du sie gefunden hast«, korrigierte Blake mit Nachdruck.
Ich schaute auf. » Und wenn schon.«
Er antwortete nicht direkt, sondern schaute mit entnervter Miene an mir vorbei.
» Hör mal«, fuhr ich fort und redete mich schon wieder in Rage, » jetzt glaub bloß nicht, dass hier mehr als der pure Zufall im Spiel war. Ich habe niemandem von Charlie erzählt. Ich rede überhaupt nie über ihn. Es ist nämlich nicht gerade ein Thema, das sich mal eben locker in eine Unterhaltung einflechten lässt, weißt du? Und ich kann nicht von anderen erwarten, dass sie sich dafür interessieren, dass mein Bruder verschwunden ist und ich nie darüber hinweggekommen bin. Aber es ist eben geschehen. Ich musste als Kind damit leben und muss es immer noch. Der Unterschied ist nur, dass die meisten Leute sich nicht mehr daran erinnern oder es ihnen egal ist. So habe ich das, was ich empfinde, wenigstens ganz für mich allein.« Außerdem hatte ich mich inzwischen so daran gewöhnt, es zu verbergen, dass ich gar nicht wusste, wie ich anfangen sollte, offen darüber zu reden. Dinge zu verheimlichen war mittlerweile etwas ganz Natürliches für mich geworden.
Er zuckte die Schultern. » Warum bleibst du eigentlich dort wohnen? Es muss doch schrecklich sein, in diesem Haus zu leben.«
» Wegen Mum«, sagte ich schlicht und erklärte, dass sie unbedingt dort bleiben wollte, wo wir immer gewohnt hatten, falls Charlie auf wundersame Weise wieder auftauchen würde.
Er schüttelte den Kopf. » Das ist genau das, was ich meine, Sarah. Wenn sie nicht umziehen will, okay. Soll sie ihren Willen haben. Aber warum musst du unbedingt bei ihr bleiben? Sie ist eine erwachsene Frau. Nur weil sie ihr eigenes Leben verpfuscht hat, musst du doch nicht zwangsläufig auch deins ruinieren.«
» Ich kann sie nicht im Stich lassen.« Stumpfsinnig strich ich mit dem Fingernagel immer wieder über die Naht meiner Jeans. » Alle anderen haben sich von ihr abgewandt. Ich kann ihr das nicht auch noch antun.«
» So wie du Geoff nicht allein im Koma liegen lassen kannst, oder was?«, gab Blake heftig zurück. » Ich muss gestehen, dass ich nicht überrascht war, dich hier anzutreffen.« Er beugte sich nach vorn. » Wenn es anders gelaufen wäre und du mir von seinem Auftritt erzählt hättest, hätte er gute Chancen auf eine Anklage wegen Belästigung
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