Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Sie wichtig ist.«
» Offen gestanden wusste ich es schon«, erwiderte Vickers und bekam einen heftigen Hustenanfall von mindestens zwanzig Sekunden. » Entschuldigung«, brachte er schließlich heraus. » Das Rauchen. Fangen Sie bloß nicht damit an.«
Offenbar war ich heute prädestiniert für kostenlose Ratschläge von der Polizei. Ich lächelte höflich, während es in meinem Hirn heftig arbeitete. » Sie wussten es also schon?«
» Ich habe ein bisschen recherchiert«, plauderte Vickers und warf mir durch den Rückspiegel wieder einen ironischen Blick zu. » Nach Ihrer Zeugenaussage musste ich Sie überprüfen. Es war nicht schwer, das alles herauszufinden. Ganz trauriger Fall.«
» Und… und Sie finden es nicht schlimm, dass ich Ihnen nichts davon gesagt habe?« Ich wollte nicht über Blake sprechen, wenn er dabei war, aber hatte er sich deswegen nicht gerade erst total aufgeregt? Weshalb spielte es Vickers dann so herunter? Und warum hatte er seine Kollegen nicht darüber informiert?
Der Chefinspektor krächzte: » Eines habe ich im Laufe der Jahre gelernt. Nämlich, dass jeder das eine oder andere kleine Geheimnis hat, das er der Polizei nicht unbedingt auf die Nase binden will. Manche davon sind für uns von Interesse, andere eher nicht. Die Erfahrung sagt einem, welche wichtig sind. Da nicht alles relevant ist, versuche ich zu selektieren, was meine Leute wissen müssen und was nicht. Ich bin jedenfalls zu dem Schluss gekommen, dass der Fall Ihres Bruders für unsere jetzigen Ermittlungen keine Rolle spielt.«
» Davon bin ich eben auch ausgegangen«, antwortete ich, während mir ein riesiger Stein vom Herzen fiel.
» Aber wenn da noch etwas anderes wäre, das Sie vor uns verheimlichen«, mahnte Vickers und bog auf die Hauptstraße ein, » das würden Sie uns doch sagen, oder? Von nun an keine Geheimnisse mehr, ja?«
Unsere Blicke begegneten sich erneut im Rückspiegel, und diesmal war ich es, die zuerst wegschaute. Trotz all der Wärme und oberflächlichen Freundlichkeit konnte man diesen kalten blauen Augen nicht trauen. Vickers hatte einen Verdacht, und ich wusste nicht, welchen. Ich antwortete nicht, und für den Rest der Fahrt herrschte Schweigen im Wagen. Es war das lauteste Schweigen, das ich je gehört hatte.
1992
Seit einem Jahr und acht Monaten vermisst
» Mrs. Barnes! Mrs. Barnes!«
Die Stimme hinter uns kenne ich. Es ist Mrs. Hunt, meine Klassenlehrerin. Ich blicke auf zu Mum, ob sie das Rufen gehört hat und ob sie stehen bleibt. Zögernd schaut sich Mum um.
» Ja?«
Mrs. Hunt ist ganz außer Atem. » Dürfte ich Sie bitten… noch einmal… zurückzukommen… für ein kurzes Gespräch?« Sie legt die Hand auf die Brust und sieht mich an. » Du bitte auch, Sarah.«
Mum folgt ihr quer über den Spielplatz zurück zur Schule, und ich trotte hinter ihnen her, den Blick auf Mums Füße geheftet. Links, rechts, links, rechts. Ich weiß schon, was Mrs. Hunt sagen wird. Die grauhaarige, dicke Mrs. Hunt ist nun schon seit einigen Monaten meine Klassenlehrerin. Das reicht aus, um einen Eindruck von mir zu bekommen. Inzwischen bin ich bereits mehrmals verwarnt worden. Ich beschließe, nicht weiter darüber nachzudenken und schalte auf Durchzug. Diesen Trick habe ich mir selber beigebracht. Wenn es mir zu viel wird, schalte ich einfach ab. Das mache ich oft.
Wir kommen im Klassenzimmer an, in ihrem persönlichen Reich. Mrs. Hunt zieht für Mum einen Stuhl heran und bedeutet mir, dass ich mich in die erste Bankreihe setzen soll. Ganz langsam lasse ich mich auf dem Platz von Eleanor Price nieder. Ich stelle mir vor, ich sei Eleanor mit ihren dicken Brillengläsern und den hellroten Haaren. Eleanor ist die Lieblingsschülerin aller Lehrer. Sie liebt es, ganz vorn beim Lehrertisch zu sitzen, damit sie Mrs. Hunt immer zeigen kann, auf welcher Seite im Geschichtsbuch wir gerade sind, oder um freiwillig Mitteilungen zu anderen Lehrerinnen zu tragen.
» Mrs. Barnes, ich wollte mit Ihnen über Sarah reden, weil ich wegen ihrer derzeitigen Leistungen sehr besorgt bin. Ich habe auch schon mit anderen Kollegen gesprochen, bei denen sie Unterricht hat, und wir haben alle das Gefühl, dass sie sich einfach nur keine Mühe gibt. Sie erledigt ihre Hausaufgaben nicht, Mrs. Barnes. Sie sitzt im Unterricht und träumt vor sich hin. Zu ihren Mitschülerinnen ist sie manchmal sehr unhöflich, und mir gegenüber riskiert sie oft eine freche Lippe.«
Genau das ist es nämlich, was sie nicht leiden kann, denke
Weitere Kostenlose Bücher