Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Zeit nahm und noch einmal die Fragen durchlas. Ich spürte, wie es mir im Rücken und an den Fingerspitzen kribbelte. Die Wörter tanzten auf dem Papier, und ohne mein Zutun wurde ich immer langsamer. Vor der Tür zu Pauls Krankenzimmer blieb ich stehen. Ich bemühte mich, gleichmäßig zu atmen. Blake drehte sich um.
» Na komm schon. Je eher du reingehst, desto eher ist es vorbei.«
» Ich will mich bloß… noch kurz sammeln.«
» Geh schon«, sagte er leise und schob die Tür auf. Ich holte ganz tief Luft, so als wollte ich in sehr tiefes Wasser springen, und ging hinein.
1998
Seit fünf Jahren und sieben Monaten vermisst
Mein Vater verspätet sich. Sehr sogar. Ich liege im Bett, kuschle mich an mein Plüschschwein und schaue traurig auf die Uhr auf meinem Nachttisch. Es ist schon fast 23 Uhr, und er hat immer noch nicht angerufen. Sonst kommt er eigentlich nie zu spät. Sobald– selten genug– ein Auto an unserem Haus vorbeifährt, stehe ich auf und sehe nach, ob er es ist. Ich weiß nicht, warum ich so beunruhigt bin. Alle zwei Wochen kommt er her, und immer läuft alles haargenau gleich ab. Er fährt am Freitagabend mit dem Auto aus Bristol bis zu uns und sagt kurz hallo zu mir. Er wartet immer draußen im Auto, weil Mum ihn nicht ins Haus lässt. Die Nacht und auch die folgende schläft er in einem Motel. Am Samstag unternehmen wir immer etwas zusammen, was eigentlich Spaß machen soll. Wir gehen zum Beispiel wandern, fahren zu einem Schloss oder in einen Freizeitpark. Meistens finde ich das ziemlich öde und hätte es mir selbst niemals ausgesucht, aber ich komme mit, um Dad eine Freude zu machen.
Er zeigt mir Fotos von der Wohnung in Bristol, von dem Zimmer, das für mich gedacht ist, und dem Schrank, in den ich meine Sachen räumen kann. Ich bin noch nie dort gewesen, weil Mum es mir nicht erlaubt. Also kommt Dad alle vierzehn Tage und setzt diesen schuldbewussten Dackelblick auf, weil er genau weiß, dass es viel zu wenig ist, und er hofft, dass ich damit kein Problem habe. Aber ich habe ein Problem damit und bin alt genug, es ihm auch zu zeigen.
In letzter Zeit habe ich schon manchmal überlegt, ob ich ihm sagen sollte, dass er nicht unbedingt alle zwei Wochen kommen muss, sondern dass mir einmal im Monat auch ausreichen würde. Aber andererseits weiß ich ja, dass es ihm wichtig ist.
Oder doch nicht? Ich liege auf dem Rücken und betrachte die Schatten der Bäume an der Zimmerdecke. Vor dem Einschlafen werde ich noch die Vorhänge zuziehen müssen. Er kommt nicht. Vielleicht hat er es ja satt, immer wieder die lange Strecke zu fahren, um dann zwei Nächte in einem blöden Hotel zu verbringen. Aber immerhin ist es mein Geburtstagswochenende. Vielleicht bin ich ihm ja schon ganz egal.
Die Tränen laufen mir die Schläfen hinunter bis ins Haar. Nach einer Weile konzentriere ich mich nur noch auf meine Tränen und versuche, dass es gleich viele an beiden Seiten sind. Aus irgendeinem Grund tränt mein rechtes Auge stärker als das linke. Für einen Moment vergesse ich, warum ich weine, doch dann fällt mir alles wieder ein. Aber das ist doch sowieso alles Quatsch und mir außerdem völlig egal.
Schon zwei Sekunden später stellt sich heraus, dass ich mich damit selbst belüge. Ein Auto hält vor dem Haus, und augenblicklich springe ich aus dem Bett und renne zum Fenster. Doch da steht nicht Dads klappriger Rover, sondern ein Polizeiwagen. Wie erstarrt stehe ich da und beobachte, wie die Beamten aussteigen. Sie setzen ihre Mützen auf und kommen langsam auf das Haus zu. Sie haben es alles andere als eilig, und das beunruhigt mich.
Als die Polizisten vor der Tür stehen und ich sie nicht mehr sehen kann, schleiche ich aus meinem Zimmer und setze mich auf die oberste Treppenstufe. Dort kann ich unbemerkt alles mithören. Mum öffnet die Tür, und das Erste, was sie sagt, ist: » Charlie!«
So was Dummes. Selbst ich weiß, dass sie nicht wegen Charlie hier sind.
Murmel, murmel, murmel. Mrs. Barnes. Murmel, murmel. Mr. Barnes war auf der Autobahn unterwegs. Sehr dunkel. Murmel, murmel. LKW-Fahrer konnte nicht ausweichen…
» Er hatte keine Zeit mehr, sich in Sicherheit zu bringen«, höre ich plötzlich klar und deutlich von einem der Beamten.
Schlagartig wird mir klar, was passiert ist. Ich will gar nicht wissen, was sie noch sagen, aber ich höre es trotzdem. Ich will das alles nicht. Ich will nicht, dass es so ist. Meine Füße sind nackt und eiskalt geworden. Es ist ein Februarabend, und
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