Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
in Sie, sagt er.« Bei diesem letzten Satz war seine Stimme so leise und widerwillig, dass ich zunächst dachte, mich verhört zu haben. Ich schaute zu den beiden Polizisten hinüber. Vickers nickte mir ermutigend zu, damit ich fortfuhr. Blake zog die Augenbrauen hoch. Sie hatten es also auch gehört.
» Aber das kann doch nicht sein«, widersprach ich entschieden. » Man kann niemanden lieben, den man gar nicht kennt.«
» Er schon«, erklärte Paul überzeugt. » Es ist halt so. Er liebt Sie schon seit Jahren.«
Vor meinem geistigen Auge tauchte ein Bild auf. » Im Wohnzimmer stehen doch Regale mit einem Sammelsurium von Dingen, wie Schlüsseln, Stiften, alten Postkarten– bunt zusammengewürfelter Müll eigentlich. Sachen, die man normalerweise nicht in ein Regal legen würde.«
Paul nickte. » Danny nennt das seine Trophäensammlung. Das sind alles Sachen, die ihm echt wichtig sind. Er hat sie dort, weil ich da nicht rein darf und er Angst hat, dass ich was kaputt mache oder so. Aber wenn er arbeiten ist, gucke ich sie mir trotzdem an, und es ist noch nie was passiert.«
» Paul, viele von diesen Sachen gehören mir. Weißt du, wie sie dorthin gelangt sind?«
» Jenny hat sie für ihn besorgt«, erklärte er ganz sachlich. » Sie hat in der Schule alles mitgenommen, was sie von Ihrem Schreibtisch oder aus Ihrer Tasche fischen konnte. Sie hat immer versucht, als Erste da zu sein, und dann Ausschau nach Sachen für Danny gehalten.«
Mir fiel ein, dass ich einmal um die Mittagszeit in mein Klassenzimmer kam und Jenny eine halbe Stunde zu früh zum Englischunterricht da war. Ich hatte damals noch einen Witz darüber gemacht, erinnerte ich mich mit einem bitteren Beigeschmack. Ich hatte angenommen, dass sie sich auf die Englischstunde freute und Spaß am Lernen hatte. Aber da hatte ich mich ein weiteres Mal getäuscht.
Als ich nichts weiter dazu sagte, seufzte Paul: » Das ist doch alles voll verkorkst, oder? Wir haben alle versucht, für andere was zu tun. Jenny hat das mit den Videos gemacht und das Zeug geklaut, um Danny zu beeindrucken. Ich hab mitgemacht, weil ich sie dadurch immer sehen konnte.« Er sah mich flehend an. » Bloß meinetwegen wäre sie doch nicht gekommen. Ihr ging es immer nur um Danny. Aber es war wirklich nicht so schlimm, dass sie nicht wegen mir da war.«
» Sie kam also wegen Danny, und du hast ihretwegen mitgeholfen.«
» Sie hätte alles für ihn getan und ich alles für sie. Und auch wenn Sie es nicht verstehen, würde Danny alles Mögliche dafür machen, um Ihnen näherzukommen. Das ganze Geld, das wir verdient haben, hat er gespart, damit er ein Haus kaufen kann. Und ein vernünftiges Auto. Er wollte mit Ihnen ausgehen. Er hat von nichts anderem geredet als von Ihnen.«
Niemand sagte etwas. Schlagartig war klar, weshalb Paul mir unbedingt helfen wollte und mir alles anvertraute, was er und sein Bruder getan hatten. Danny wollte mich vermutlich schützen– wieder einmal, dachte ich schaudernd und verbannte eine unselige Erinnerung in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses. Paul tat wie immer sein Bestes für seinen Bruder. Ich fragte mich, warum es in Krankenhäusern immer so schrecklich warm sein musste. Die Luft im Zimmer war verbraucht und stickig– und plötzlich nicht mehr auszuhalten.
In diesem Moment klopfte jemand leise an die Tür. Blake öffnete sie eilig einen Spalt und sprach flüsternd mit jemandem. Für einen kurzen Moment tauchte ein massiger Schädel auf, der zu meinem alten Bekannten gehörte– dem, der vor Geoffs Zimmer gesessen hatte. Beim Gedanken an Geoff spürte ich eine Art schlechtes Gewissen, denn ich hatte ihn den ganzen Tag über so gut wie vergessen. Aber schließlich hatte ich ja selbst reichlich Ärger am Hals gehabt.
Paul lehnte sich in seine Kissen zurück und sah aus dem Fenster. Vickers war aufgestanden und lockerte bedächtig und gedankenverloren seinen Hosenbund. Ich merkte, dass seine ganze Aufmerksamkeit dem Gespräch an der Tür galt. Vermutlich war ihm gerade gar nicht mehr bewusst, dass ich noch da war. Die Sozialarbeiterin blieb sitzen und schaute weiter gütig drein. Sie sah aus, als hätte sie Pauls Geständnis überhaupt nicht mitbekommen. Wie konnte man nur so dasitzen und derart ungerührt den widerwärtigen Einzelheiten der Verbrechen dieses Brüderpaares lauschen? Fairerweise muss man natürlich zugeben, dass lautstarke Empörung einer Sozialarbeiterin nicht angemessen ist. Aber eine winzige Regung wäre wohltuend
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