Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
und verstaute die Karte in meiner Handtasche. » Machen Sie sich bitte meinetwegen keine Sorgen. Ich komme schon klar.«
» So ist’s recht«, erwiderte Vickers. » Wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt. Sie erfahren dann von uns, was er gesagt hat.«
Ich nickte und deutete mühsam ein Lächeln an, das sie beruhigen sollte. Mit schnellen Schritten gingen sie zum Fahrstuhl. Ich stand inmitten des Ganges und schob wieder und wieder den Henkel meiner Tasche durch die Finger, bis eine kleine Patientin im Schlafanzug mich bat, sie durchzulassen. Ich machte ihr Platz und sah ihr nach, wie sie an mir vorbeiging und dabei einen Tropfständer hinter sich herzog, der viel höher war als sie. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie wollte, aber sie strahlte so eine Zielstrebigkeit aus. Erschöpft lehnte ich mich an die Wand und fragte mich, wie das wohl sein mochte. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich so nutzlos gefühlt.
Der Flur war nicht gerade der beste Ort, um planlos herumzustehen, und nachdem ich zum dritten Mal jemandem Platz gemacht hatte, wandte ich mich langsam zur Tür mit der Aufschrift » Ausgang«. Ich schob sie auf, fand dahinter eine Treppe und schleppte mich bis ins Erdgeschoss hinunter. Ich zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und musste mich am Geländer festhalten. Unten angekommen ging ich durch eine Tür, die jemand offen gelassen hatte, und kam hinaus auf eine gepflasterte Fläche mit ein paar Bänken– offensichtlich eine Raucherinsel für Patienten, die fit genug waren, sich ab und zu eine Zigarette zu genehmigen. Seitlich an den Bänken waren Metallbehälter angebracht, die allesamt von Zigarettenkippen überquollen, und in der Luft hing der beißende Geruch von verbranntem Tabak. Der Platz war menschenleer und die Nachtluft einen Hauch kälter, als es angenehm war. Ich setzte mich auf die am weitesten von der Tür entfernte Bank, verschränkte die Arme, und ein heftiger Schauer, der nichts mit der Lufttemperatur zu tun hatte, schüttelte mich.
Es war alles zu viel. Dieser Satz ging mir nicht aus dem Kopf. Viel zu viel. Zu viel Leid. Zu viele offene Fragen. Es war mir absolut rätselhaft, was die Nachricht von Geoffs Tod in mir auslöste. Nur weil er ein Nein nicht hinnehmen konnte, war er in dieses ganze Chaos hineingeraten. Sein Ehrgefühl hatte ihn ins Visier eines Mannes gebracht, der einer fixen Idee verfallen war und es nicht zuließ, dass etwas zwischen ihm und dem stand, worauf er fixiert war. Und Danny Keane war ganz offensichtlich auf mich fixiert.
Ich zog die Knie zu mir heran, schlang meine Arme darum, drückte sie fest zusammen und legte die Stirn auf die Knie. Nichts von alledem war meine Schuld. Zu nichts von alledem hatte ich etwas beigetragen. Ich war in keiner Hinsicht besonders oder bemerkenswert. Danny hatte etwas in mich projiziert, das ich gar nicht war. Er hatte sich eingebildet, dass ich in einer Weise außergewöhnlich sei, die ich nicht einmal im Traum für mich in Anspruch genommen hätte. Ich war doch ein ganz normaler Mensch. Das einzig andere an mir waren die Schuldgefühle, die mich in meinem öden Leben gefangen hielten wie einen Falter auf der Steckplatte eines Insektenkundlers. Trotzdem hat Danny Keane meinetwegen blutige Spuren im Leben so vieler Menschen hinterlassen: bei den Shepherds, in Geoffs Familie und bei dem armen dicken Paul. Ich krallte die Fingernägel in meine Oberarme. Ich war ein Opfer– genauso wie die anderen, deren kleine Trophäen in Dannys Regal lagen. Das hatte ich alles nicht gewollt.
» Ich hoffe, dass sie dich grün und blau schlagen«, sagte ich laut und stellte mir dabei Dannys Gesicht vor. Seine leuchtenden Augen und die hohen Wangenknochen wirkten auf Mädchen im Teenageralter unwiderstehlich. Doch noch während ich die Worte aussprach, wurde ich schon wieder abgelenkt. Etwas nagte in meinem Unterbewusstsein. Ich konzentrierte mich und überlegte, was es wohl sein mochte, spürte sämtlichen Gedanken noch einmal nach. Was konnte es nur sein? Es war etwas Wichtiges… etwas, das ich gesehen hatte, aber nicht einordnen konnte.
Trophäen.
Die Erkenntnis überkam mich so plötzlich, dass ich mich mit offenem Mund und rasendem Puls an der Bank festhalten musste. Mit zittrigen Händen durchwühlte ich meine Tasche, suchte nach dem Handy und dieser verdammten Visitenkarte von Vickers. Wo war sie nur? Nein , das war sie nicht. Wieso schleppte ich nur so viel Müll mit mir herum? Quittungen… Einkaufszettel…
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