Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Vielleicht hatte ich sie ja oben auf der Kinderstation vergessen? Oder auch nicht.
Ich hielt die Karte wie einen wertvollen, zerbrechlichen Schatz in der Hand, während ich die Handynummer eintippte und dabei jede Ziffer zweimal überprüfte. Ich zwang mich zur Ruhe. Natürlich meldete sich nur die Mailbox. Ich hielt mich nicht damit auf, eine Nachricht zu hinterlassen, sondern wählte stattdessen sofort die Nummer des Polizeireviers.
Die Frau in der Zentrale hörte sich an, als hätte sie einen endlos langen Dienst hinter sich.
» Er ist momentan nicht zu sprechen. Kann ich Sie mit seiner Mailbox verbinden?«
» Für mich ist er ganz bestimmt zu sprechen«, entgegnete ich und versuchte, meiner Stimme einen gewissen Nachdruck zu verleihen. Dabei dachte ich, dass es bestimmt noch wirkungsvoller wäre, wenn ich das Zittern darin unterdrücken könnte. » Richten Sie ihm aus, dass ich ihm dringend etwas sagen muss, ehe er mit Danny Keane redet. Sagen Sie ihm, dass ich unbedingt mit ihm sprechen muss.«
Mit einem missgelaunten Murmeln parkte sie mich in der Warteschleife, sodass ich wohl oder übel ausharren musste, während ich ungeduldig mit dem Fuß auf und ab wippte und eine quäkende Instrumentalversion von » Islands in the Stream« meine Ohren malträtierte. Trotz des Hier-geht-es-um-Leben-und-Tod-Dramas, das ich gerade aufgeführt hatte, rechnete ich eigentlich nicht damit durchzukommen, und erschrak beinahe, als sich nach einer Weile tatsächlich Vickers am anderen Ende meldete.
» Ja, hallo?«
» Sie müssen ihn unbedingt nach dem Halsband fragen«, verlangte ich ohne jede Vorrede. » Es ist aus Leder mit Perlen und liegt im Regal. Ein dünnes Lederband.«
» Warten Sie«, erwiderte Vickers kurz angebunden. Dann hörte ich Papier rascheln und stellte mir vor, wie er in der Akte blätterte. » Ich habe ein Foto davon, ja. Es liegt auf dem obersten Regalbrett. Was ist daran so wichtig? Gehörte es Jenny?«
» Nein«, entgegnete ich finster. » Es gehörte meinem Bruder. Und es ist praktisch ausgeschlossen, dass es sich in Danny Keanes Besitz befindet. In dem Sommer, als Charlie verschwand, hat er dieses Halsband nie abgenommen, nicht einmal beim Baden. Er hat es auch an dem Tag umgehabt, als er verschwand, und ich war die Letzte, die ihn gesehen hat– abgesehen von dem, der ihn auf dem Gewissen hat.«
» Sind Sie sicher?«, fragte Vickers.
» Ohne jeden Zweifel«, antwortete ich. » Können Sie mich anrufen und mich wissen lassen, was er dazu gesagt hat?«
» Ohne jeden Zweifel«, wiederholte Vickers meine Worte und legte auf.
Ich setzte mich, lauschte der Stille und hantierte mit meinem Handy. Immerzu nahmen die Dinge eine ganz andere Wendung als erwartet. Jahrelang war ich davon ausgegangen, dass sich meine Mutter irrte mit ihrer Vermutung, ich könne das Rätsel um Charlies Verschwinden lösen. Diesen vermeintlichen Unsinn hatte ich ihr sehr übel genommen. Das alles hatte unsere Beziehung zerstört und den Boden, auf dem sie stand, so versalzen, dass nichts mehr darauf wachsen konnte. Und nun sah es ganz danach aus, als hätte sie Recht gehabt– so zuwider es mir auch war, das zuzugeben.
Ich fühlte mich vollkommen leer, aber ich musste es irgendwie schaffen, mich zu bewegen. Es war höchste Zeit, nach Hause zu fahren.
1999
Seit sieben Jahren vermisst
Nachts ist der Park ganz anders. Unter den Bäumen, dort, wo die Straßenbeleuchtung nicht hinkommt, herrscht Dunkelheit, und ich sehe nur den roten Glutkegel von Marks Zigarette. Immer wenn er daran zieht, glüht das Rot auf und verblasst dann wieder. Ich erkenne sein Gesicht von der Seite, die Kontur seiner Wange und die langen Wimpern. Manchmal denke ich, er mag mich, und dann bin ich mir wieder gar nicht sicher. Er ist drei Jahre älter als ich. Gerade hat er seine Fahrprüfung im ersten Anlauf bestanden. Und er sieht so gut aus, dass er reichlich Blicke auf sich zieht, wenn er die Hauptstraße entlangstolziert. Sämtliche Mädchen aus meiner Schule sind in ihn verknallt.
Ein scharrendes Geräusch verrät, dass Stu neben Mark die Position wechselt. Ich rücke ein Stück beiseite und versuche, weniger Platz einzunehmen. Es hat angefangen zu nieseln, und unsere kleine Gruppe rückt enger zusammen. Ich spüre Annettes Ellbogen in der Seite. Immer wenn alle lachen, weil Stu wieder einen Witz gerissen hat, stößt sie damit zu. Das ist Absicht. Sie kann mich nicht leiden.
» Los, wir spielen Flaschendrehen«, schlägt sie vor, hält die
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