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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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Schock fuhr mir trotzdem in die Knochen.
    » Seid ihr sicher, dass es Charlie ist?«, brachte ich leicht schwankend hervor.
    » Der Gerichtsmediziner hat nach dem ersten Augenschein bestätigt, dass die Knochen zum Alter des Opfers und der Dauer, die sie in der Erde lagen, passen. Trotzdem bekommt man von Wissenschaftlern nicht so schnell klare Antworten. Eine Laboruntersuchung wird auf jeden Fall genauere Erkenntnisse bringen. In ein paar Tagen bekommen wir einen Befund auf Grundlage zahnmedizinischer Unterlagen und DNA-Proben. Bisher stimmt alles mit dem überein, was Danny uns erzählt hat. Vom Fundort bis zur Lage der Leiche– einfach alles. Es müsste schon ein unglaublicher Zufall sein, wenn es sich nicht um Charlie handelt.«
    » Danke, dass du es mir gesagt hast«, sagte ich und meinte es ernst, obwohl meine Stimme gleichgültig klang.
    » Möchtest du einen Blick drauf werfen?«
    » Nein. Ich… ich möchte die Knochen nicht sehen. Kannst du mich nach Hause bringen?«
    » Natürlich.« Obwohl er sehr höflich klang, entging mir das kurze Zögern vor seiner Zustimmung nicht. Er suchte in der Hosentasche nach seinem Autoschlüssel und hielt ihn mir hin. » Ich muss Vickers noch Bescheid sagen, wohin wir fahren. Kannst du schon mal allein zum Auto gehen?«
    Wortlos nahm ich den Schlüssel entgegen und stapfte zurück zum Auto, immer an den Bahngleisen zu meiner Rechten entlang. Ohne viel nachzudenken, konzentrierte ich mich darauf, immer einen Fuß vor den anderen zu setzen, und schaute nur gelegentlich auf, ob das Tor schon in Sicht war. Den Weg zu finden war ganz einfach, weil ich eigentlich nur dem Knarzen folgen musste, das vom Funkgerät des Beamten kam, der das Tor bewachte. Wortlos ging ich an ihm vorbei und schleppte mich die Stufen hinauf wie eine sehr, sehr alte Frau. Erst als ich bei Blakes Wagen ankam, bemerkte ich, dass ich den Schlüssel so fest umklammert hatte, dass ein rötlicher Abdruck auf meiner Handfläche zurückblieb. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und wartete. Dabei dachte ich an gar nichts und strich mit dem Finger immer wieder und wieder über die Delle auf meinem Handteller.
    Die Rückfahrt kam mir viel kürzer vor als der Hinweg. Blake fuhr zügig, bremste an den Ampeln abrupt und fluchte leise über die anderen Autofahrer. Der Berufsverkehr an diesem Montagmorgen war ziemlich dicht. Blake wollte so schnell wie möglich wieder zurück zum Schauplatz der Grabung, falls noch etwas anderes zum Vorschein kam. Inzwischen suchten sie nach weiteren Personen, die im Laufe jener fünfundzwanzig Jahre verschwunden waren, in denen Derek Keane seine Verbrechen begangen hatte. Die Stelle war zum Verscharren von Leichen viel zu gut geeignet, um sie nur ein einziges Mal zu nutzen, meinte Blake. Deshalb rechneten sie damit, dort noch mehr zu finden. Doch ich konnte seine Aufregung nicht teilen. Allmählich bekam ich Platzangst. Ich fühlte mich, als würde mir jemand Mund und Nase zuhalten. Der Schrecken, den Derek Keane verbreitet hatte, nahm offenbar kein Ende. Mit seinen Perversionen hatte er unser Leben vergiftet, und sein schreckliches Erbe lebte in seinem gestörten und gefährlichen Sohn weiter.
    Vor unserem Haus verabschiedete ich mich kurz und ohne Umschweife von Blake. Er war sehr förmlich und in Gedanken ganz bei seiner Arbeit. Als ich zur Haustür ging, ließ er noch einmal das Fenster herunter und rief mir nach: » Ich melde mich in ein paar Tagen und sage dir, was der Pathologe herausgefunden hat.«
    Ich winkte ihm dankend zu, wusste jedoch schon jetzt, wie das Ergebnis ausfallen würde. Danny hatte keinen Grund zu lügen. Was Charlie zugestoßen war, lag auf der Hand. Die letzten Momente seines Lebens mussten entsetzlich gewesen sein– voller Angst, Schmerz und Wut. Das Bild, das ich von meinem Bruder hatte, war inzwischen von so viel Sentimentalität geprägt, dass ich mir nicht mehr vorstellen konnte, was er dabei wohl getan haben mochte. Der Held meiner Kindheit, der immer clevere und einfallsreiche große Bruder, hatte sich natürlich gewehrt. Aber ein Kind in einer so angstvollen, verzweifelten Lage hat wahrscheinlich einfach nur nach seiner Mutter geschrien. Und genau das war es sicher, was Mum in all den Jahren am meisten zu schaffen gemacht hatte, überlegte ich, während ich meine matschigen Stiefel auf der Fußmatte abstellte. Sosehr sie ihn auch geliebt hatte– und ihre Liebe zu ihm war grenzenlos gewesen–, hatte sie es nicht geschafft, ihn zu beschützen.
    Im

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