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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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ob ich das aushalte.«
    Ganz sacht schloss ich die Küchentür hinter mir und stand in der Mitte des Raumes. Meine Fäuste waren geballt, und ich zwang mich, meine Finger einen nach dem anderen wieder zu lösen. Ich wartete, bis die brave Tochter in mir es der bösen Tochter ausgeredet hatte, die Küche zu Kleinholz zu verarbeiten. Es wäre wirklich zu viel von Mum verlangt gewesen, zuerst an Jenny oder ihre Eltern zu denken. Natürlich drehte sich alles– wie üblich– nur um sie.
    Schließlich machte ich uns Baked Beans aus der Dose mit Toast. Im Kühlschrank herrschte gähnende Leere. Ich musste dringend etwas einkaufen und entsorgte erst einmal ein Bündel vergilbten, gummiartigen Sellerie aus dem Gemüsefach und einen Beutel Tomaten, die schon im eigenen Saft schwammen. Aber im Moment hatte ich einfach nicht genug Energie. Bohnen taten es auch. Zum Glück hatten wir beide ohnehin keinen richtigen Hunger. Ich stocherte auf meinem Teller herum– die knochenharten Bohnen schwammen in einer suspekten, zähflüssigen Sauce und hatten schwarze Stellen, weil ich sie im Topf hatte leicht anbrennen lassen. Verständlicherweise war ich beim Erwärmen nicht ganz bei der Sache gewesen. Mum unternahm nicht einmal den Versuch, etwas davon zu essen. Sie saß einfach da und starrte so lange ins Leere, bis ich das Abendessen für beendet erklärte und ihren unberührten Teller abräumte. » Geh ruhig ein bisschen fernsehen, Mum. Ich kümmere mich um den Abwasch.«
    Sie schlurfte ins Wohnzimmer. Noch ehe ich den Wasserhahn aufdrehte, hörte ich, wie der Fernseher losplärrte, mitten in einen dümmlichen Werbespot hinein. Aber das Programm war ihr ohnehin egal. Es ging ihr nur darum, etwas zu tun zu haben, während sie ihre tägliche Dosis Flüssignahrung zu sich nahm.
    Abwaschen war eine billige Form von Psychotherapie. Ich schrubbte die klebrige Pfanne, bis sämtliche Reste von Tomatensauce beseitigt waren, und dachte dabei über nichts Spezielles nach. Aus eigentlich nicht nachvollziehbaren Gründen war ich nervös. Vom Küchenfenster aus sah ich, wie der Garten allmählich in der Dämmerung versank. Es war ein klarer Abend, der still und friedlich alles in bläulich violettes Licht tauchte. Kaum zu glauben, dass es erst vierundzwanzig Stunden her war, dass ich mich im Auge des Sturms befunden hatte und die Polizei sich brennend für das Wenige interessierte, was ich wusste, so als läge der Schlüssel zur Aufklärung dieses Falles ganz allein in meinen Händen. Es fiel mir schwer, mich damit abzufinden, dass wir alle zu spät in den Wald gekommen waren. Jennys Mörder zu suchen war nur ein unbefriedigender Kompromiss im Vergleich dazu, sie lebendig zu finden. Seufzend trocknete ich mir die Hände an einem Geschirrtuch ab, und mir wurde bewusst, dass ich ziemlich deprimiert war. Ob das daran lag, dass ich mich am Rande des Geschehens befand– was ja schließlich mein ausdrücklicher Wunsch gewesen war–, oder ob es die verspäteten emotionalen Auswirkungen des Vortages waren, wusste ich nicht. Was wollte ich denn eigentlich? Eine neue Chance zum Schlagabtausch mit DS Blake? Einen weiteren Auftritt im Rampenlicht? Einen Platz im Zentrum der Ereignisse? Ich musste mich zusammenreißen und wieder meinem eigenen Leben zuwenden, so öde diese Aussicht auch war.
    Vor Müdigkeit begann mir schon alles vor den Augen zu verschwimmen. Ich löschte das Küchenlicht und schleppte mich ins Wohnzimmer, wo gerade die Abendnachrichten begannen. Ich setzte mich neben Mum aufs Sofa und lehnte mich bewusst weit zurück in die Kissen, damit sie mein Gesicht nicht sehen konnte, ohne ihren Kopf zu drehen. Ich wollte mir die Sendung in Ruhe ansehen und nicht darüber nachdenken, was sie wohl denken mochte.
    Ein Bild von Jenny wurde eingeblendet– ein Klassenfoto, das vor ein paar Monaten aufgenommen worden war. Die Krawatte war so ordentlich geknotet wie sonst nie und das Haar zu einem adretten Pferdeschwanz gebunden. Das Lächeln wirkte aufgesetzt; der Fotograf war unsympathisch und gereizt gewesen, erinnerte ich mich– er hatte die Mädchen wie Volltrottel behandelt, und alle fanden ihn unangenehm. Ich starrte das Foto auf dem Bildschirm an und versuchte es mit dem in Einklang zu bringen, was Blake mir erzählt hatte: Es war offensichtlich, dass sie im vierten Monat schwanger war … Aber das da auf dem Bildschirm war das Gesicht eines Kindes. Und genau das war Jenny doch auch gewesen. Seit sie an unsere Schule gekommen war, hatte ich sie

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