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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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hatte, und dann so, wie ich sie im Wald gefunden hatte. Im zweiten Bild fehlte etwas– es fehlte das, was sie ausgemacht hatte. Es war verschwunden. Tu aus das Licht, und dann – tu aus das Licht. Shakespeare hatte das gut hinbekommen mit seinem armen, ratlosen, mörderischen Mohren. Pflückt ich deine Rose, Nie kann ich ihr den Lebenswuchs erneun, Sie muss, muss welken … Ich schaltete das Badlicht aus und zog mich ins Halbdunkel meines Zimmers zurück, wo ich seufzend unter die Bettdecke kroch. Ich hätte wohl Zorn, Kummer oder so etwas wie Erleichterung empfinden müssen, aber eigentlich fühlte ich vor allem gar nichts.
    Am nächsten Morgen fuhr ich ziemlich lustlos zur Schule. Elaine hatte uns unmissverständlich mitgeteilt, dass wir zu erscheinen hatten, obwohl die Schülerinnen vom Unterricht befreit waren. Ich vermutete, dass etliche meiner Kollegen die Fernsehnachrichten gesehen hatten, und bekam vor Scham eine Gänsehaut. Als ich mich dem Schultor näherte, sah ich als Erstes eine Gruppe von Mädchen aus Jennys Klasse– es waren drei: Anna Philips, Corinne Summers und Rachel Boyd. Sie trugen nicht ihre Schuluniform, sondern Jeans und Kapuzenpullover. Als ich auf das Schulgelände fuhr, umarmten sie sich gerade etwas verlegen vor den unzähligen Kamerateams und Reportern, die nach wie vor die Schule belagerten. Dennoch hatte ihre zur Schau gestellte Betroffenheit etwas Aufrichtiges und Glaubwürdiges an sich; ihre Gesichter waren gerötet und fleckig vom Weinen und keineswegs kameratauglich gestylt. Ich parkte auf dem erstbesten freien Platz ein, sprang aus dem Auto und eilte ins Schulhaus, um meiner Pflicht als Beschützerin, Beraterin oder Freundin– was auch immer von mir verlangt wurde– nachzukommen.
    Beim Näherkommen erkannte ich, dass überall Blumen lagen. Der Zaun rund um die Schule fungierte als improvisierter Gedächtnisschrein und war mit Karten, Plüschtieren, sogar Luftballons und Plakaten geschmückt, die Zeitungsbilder und-ausschnitte zeigten. Überall sah man Jennys Gesicht in unscharfer Druckqualität und daneben zahllose Blumensträuße in knallbunter Folie. Kerzen flackerten matt im grellen Sonnenschein. Während ich wartete, bis die Mädchen ihre kleine Mahnwache beendet hatten, lief ich am Zaun entlang und las einige der Karten und Plakate durch. Ein kleiner Engel, der uns viel zu früh genommen wurde. Wir werden dich nie vergessen, Jennifer. Auch wenn ich dich nicht kannte, werde ich immer an dich denken … Das alles zeugte vom verzweifelten Bedürfnis der Menschen, Anteil an dieser Tragödie zu nehmen und zu zeigen, wie betroffen sie der Vorfall machte. Und doch war es ein so durch und durch sinnloses Bestreben.
    Ich brauchte mich gar nicht weiter um die drei Mädchen zu bemühen, denn kaum hatten sie mich bemerkt, kamen sie direkt auf mich zu. Genau das war wohl der Unterschied zwischen Kindern und Teenagern, sinnierte ich. In einem Jahr würden sie extra die Richtung wechseln, nur um nicht mit einer Lehrerin reden zu müssen. Doch diese Mädchen waren noch offenherzig und vertrauensvoll. Leichte Beute. Jenny war genauso gewesen.
    » Wie geht es euch?«, fragte ich mitfühlend und ging mit ihnen zu einer etwas abseits der Medienmeute stehenden Bank auf dem Schulgelände.
    Corinne, ein langes, dünnes, brünettes Mädchen, lächelte mich gequält an. » Geht schon. Ist nur schwer zu begreifen.«
    » Hat die Polizei schon mit euch gesprochen?«, erkundigte ich mich. Die drei schüttelten synchron den Kopf.
    » Wenn sie mit euch reden«, begann ich und wählte meine Worte mit Bedacht, » wenn sie etwas von euch wissen wollen, dann könnte es sein, dass sie euch Fragen über Jennys Leben stellen.«
    Die drei Köpfe nickten.
    » Sie könnten euch zum Beispiel nach Leuten fragen, die Jenny kannte– mit denen sie befreundet war.«
    Sie nickten wieder.
    » Es könnte sein, dass sie sich nach Leuten erkundigen, von denen ihre Eltern vielleicht gar nichts wussten«, deutete ich an.
    Corinne und Anna, deren kleines, rundliches Gesicht und stämmige Statur mich unweigerlich an einen Hamster erinnerten, sahen mich daraufhin groß an, während Rachel ihre blauen Augen zu Boden richtete und nicht wieder aufsah. Interessant.
    » Wisst ihr, wenn Jenny heimliche Freunde hatte, dann könnte das der Polizei helfen herauszufinden, wer sie umgebracht hat«, erklärte ich und beobachtete, ob Rachel darauf reagierte. Ihre Mundwinkel wiesen notorisch nach unten, wodurch sie immer ein bisschen

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