Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
außerordentlich schwer. Es ist durchaus verständlich, wenn Leute lieber wegschauen.«
Ich dachte zurück an die Fragen der Journalisten. Da Blake gerade so gesprächig war, musste ich ihn unbedingt etwas fragen. » Bei der Autopsie… Haben sie da… Wurde sie… missbraucht?«
Er zögerte einen Moment. » Nicht direkt.«
» Was soll das heißen?«
» Nicht in letzter Zeit«, sagte er langsam und presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, während ich die Augen weit aufriss.
» Also war es offensichtlich– gab es Anzeichen dafür?«
» Es war offensichtlich, dass sie im vierten Monat schwanger war. Damit war die Sache klar.« Er sprach leise, artikuliert und nüchtern. Ich konnte mich nicht verhört haben.
» Aber sie war ein Kind«, brachte ich schließlich heraus. In meiner Lunge war nicht genug Luft. Ich war nicht in der Lage, tief einzuatmen.
» Sie war fast dreizehn.« Er runzelte die Stirn. » Ich hätte Ihnen das nicht sagen sollen– nichts von alldem. Außer der Polizei sind Sie jetzt die Einzige, die davon weiß. Wenn es die Runde macht, weiß ich, dass Sie die undichte Stelle waren.«
» Sie brauchen mir nicht zu drohen. Ich werde nichts sagen.« Es war unvorstellbar für mich, mit jemandem über das zu sprechen, was Blake mir gerade offenbart hatte. Die Schlussfolgerungen waren zu furchtbar, um sie sich vorzustellen.
» Ich wollte Ihnen nicht drohen. Es ist nur– das kann richtig Ärger geben für mich, weil ich vertrauliche Informationen weitergegeben habe.«
» Warum haben Sie es mir denn dann überhaupt erzählt?«, fragte ich pikiert.
Er zuckte die Schultern. » Wahrscheinlich, weil ich Sie nicht anlügen wollte.«
Darauf erwiderte ich nichts– ich konnte nicht. Doch mein Gesicht brannte. Ich kannte diesen Polizeibeamten kaum, aber seine Gabe, mich immer wieder zu überrumpeln, war nicht zu leugnen.
Teilnahmsvoll sah er auf mich herab. » Gehen Sie jetzt lieber nach Hause. Es hält Sie doch heute nichts mehr hier fest, oder?«
Ich schüttelte den Kopf, und er schickte sich an, in die Aula zurückzukehren. Mit der Hand auf der Türklinke hielt er einen Moment inne, um sich zu sammeln. Dann öffnete er die Tür und war im nächsten Moment verschwunden.
1992
Seit acht Stunden vermisst
Meine Wange ist in einem unserer vielen Sofakissen vergraben. Wenn ich atme, bewegt sich der seidige Stoff vor meinem Mund hin und her. Ich beobachte es durch meine halbgeschlossenen Augenlider. Hin. Her. Hin. Her.
Ich habe ein Weilchen geschlafen, aber nicht lange. Von der unbequemen Lage ist mein Hals ganz steif, außerdem friere ich. Ich möchte zu Bett gehen und überlege, wovon ich aufgewacht bin. Stimmen sind zu hören: Die meiner Eltern und zwei, die ich nicht kenne– eine männliche und eine weibliche. Ich rühre mich nicht, atme möglichst gleichmäßig und lausche. Bitte keine Fragen mehr! Ich habe Riesenärger am Hals und hasse Charlie dafür.
» Probleme in der Schule vielleicht? Schikaniert ihn jemand? Keine Lust auf Hausaufgaben?«
Meine Mutter antwortet mit schwacher und abwesender Stimme: » Charlie ist ein zuverlässiger Junge. Er geht gern zur Schule.«
» Wenn ein Kind vermisst wird, gab es zuvor oft Ärger zu Hause– Streit mit Eltern oder Geschwistern. Ist vielleicht in dieser Richtung etwas vorgefallen?« Diesmal klingt die Frage vorsichtiger, die Stimme der Frau sanfter.
» Auf keinen Fall!«, entgegnet mein Vater. Er klingt nervös und wütend.
» Also, ab und zu gab es schon mal Ärger. Er wird ja auch größer und rebelliert ein bisschen. Aber nie was Ernstes.«
Mum verstummt, und es herrscht Stille. Meine Nase kitzelt. Ich möchte die Hand bewegen und an meiner Nase reiben, damit das Kribbeln aufhört, aber das würde mich verraten. Stattdessen fange ich an zu zählen. Als ich bei dreißig bin, ist das Kribbeln fast weg.
» Und Sie denken also, die junge Dame hier weiß, wo er ist?« Der Schreck fährt mir in die Glieder. Fast wäre ich zusammengezuckt. » Könnten Sie sie wecken, damit wir mit ihr reden können?«
Jemand berührt mein nacktes Bein knapp unter dem Knie und rüttelt es sanft. Als ich die Augen öffne, erwarte ich, meine Mutter vor mir zu sehen, aber neben mir steht mein Vater. Mum sitzt am anderen Ende des Zimmers seitlich auf einem Stuhl, die Augen starr zu Boden gerichtet. Den Arm hat sie um die Lehne geschlungen und beißt auf ihrem Daumennagel herum, wie sie es immer tut, wenn sie nervös oder wütend oder beides ist.
»
Weitere Kostenlose Bücher