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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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Schuld. Wir sorgten uns doch alle rund um die Uhr darum, wie Mum auf etwas reagieren würde, und wurden durch die immense Schwerkraft ihres Selbstmitleids in ihre emotionale Umlaufbahn gezogen. Fast hätte ich Tante Lucy dafür verurteilt, dass sie wieder nur an Mum dachte und nicht an die Shepherds oder an Jennys Freunde oder gar mich. Aber ich tat es nicht. Schließlich schaffte ich es sogar, den Ärger fast vollständig aus meiner Stimme zu verbannen, auch wenn meine Antwort etwas steif ausfiel: » Natürlich sage ich nichts, was sie zu sehr aufregen könnte. Und es würde mir nicht im Traum einfallen, einen Zusammenhang anzudeuten.«
    Es verging ein Moment, bis Tante Lucy wieder etwas sagte, und ich fühlte mich schäbig. Sie kannte mich gut genug, um meine Verärgerung zu bemerken– auch wenn ihr der Grund vielleicht nicht klar war. Das hatte sie jedenfalls nicht verdient.
    » Wie geht es deiner Mutter denn zur Zeit?«
    » Eigentlich wie immer.«
    Durch die Leitung kam ein mitfühlend-besorgtes Seufzen, und ich musste lächeln, als ich mir Tante Lucy vorstellte, wie sie perfekt frisiert und geschminkt auf der Bettkante saß– wahrscheinlich schlief sie sogar mit Wimperntusche. Um Onkel Harry nicht zu stören, telefonierte sie immer im Schlafzimmer. Er hatte gern seine Ruhe. Manchmal fragte ich mich, ob das der Grund war, weshalb sie keine Kinder hatten, oder ob sie einfach keine hatten bekommen können. Sie danach zu fragen, hatte ich mich nie getraut. Doch dadurch konnte sie mir eine wunderbare Tante sein– und gelegentlich sogar eine Mutter.
    » Das ist bestimmt nicht leicht für dich«, sagte meine allerliebste Tante nun, und wie immer fühlte ich mich sofort getröstet.
    » Ehrlich gesagt sehe ich sie gar nicht so oft. Ich halte ein bisschen Abstand.«
    » Hast du noch mal darüber nachgedacht auszuziehen?«
    Ich verdrehte die Augen. Großartiger Vorschlag, Tante L. Danke, dass du mich daran erinnerst. » Ich glaube, angesichts der Umstände ist gerade kein besonders guter Zeitpunkt dafür.«
    Tante Lucy knurrte ungeduldig. » Wenn du immer nur auf den perfekten Zeitpunkt wartest, kommst du nie da weg. Es wird immer einen Grund geben, weshalb es gerade nicht geht. Aber mal ehrlich, eigentlich bist du es doch, die sich nicht lösen kann.«
    Die gute alte Tante Lucy versuchte wieder einmal, die letzte Überlebende der Familienkatastrophe zu retten. Sie war diejenige gewesen, die mir zugeraten hatte, statt unseres Familiennamens Barnes Mums Mädchennamen anzunehmen, damit ich mich vor Gelegenheitsneugier und Mutmaßungen schützen konnte. Im Jahr vor meinem Schulabschluss hatte sie mir stapelweise Uni-Broschüren mitgebracht und bei den Bewerbungen geholfen. Sie hatte alles versucht, um mich davon abzuhalten, nach dem Studium mit der Lehrbefähigung in der Tasche wieder bei Mum einzuziehen. Aber ich fühlte mich einfach dazu verpflichtet, egal was Tante Lucy sagte.
    Ein Geräusch hinter mir ließ mich zusammenzucken, und ich drehte mich um. Oben an der Treppe stand meine Mutter. Sie hatte zugehört. » Mum«, rief ich erschrocken und ging in Gedanken noch einmal durch, was ich gerade gesagt hatte– soweit ich mich erinnern konnte–, auf der Suche nach einem potenziellen Affront.
    » Du musst endlich loslassen, Sarah. Denk nicht immer nur an sie«, flötete Lucy, die noch nicht mitbekommen hatte, was an meinem Ende der Leitung los war. » Ich mag deine Mutter wirklich sehr, aber sie ist eine erwachsene Frau und muss mit ihren Entscheidungen allein zurechtkommen. Du hast ein eigenes Leben zu leben; wie viel willst du ihr denn noch opfern? Außerdem ist es nicht gut für sie, in… in… einem Museum zu wohnen. Ich habe ihr schon vorgeschlagen, hierherzuziehen und sich ein neues Leben einzurichten. Ich würde mich doch um sie kümmern. Sie könnte im Handumdrehen wieder auf die Beine kommen.«
    » Ähm, nein, Tante Lucy…«, stotterte ich und starrte Mum dabei an. Sie war barfuß, trug ihr Nachthemd und eine uralte, mottenzerfressene Strickjacke.
    » Lucy!« Mum kam die Treppe heruntergewankt und streckte die Hand nach dem Telefonhörer aus. » Ich will mit ihr reden.« Sie konnte kaum geradeaus schauen und hatte vermutlich schon etliche Gläser intus, obwohl sie noch recht kontrolliert wirkte. Ich überließ ihr den Hörer, stand auf und murmelte etwas vom Abendessen, das ich vorbereiten wollte. Als ich in die Küche ging, hörte ich sie sagen: » Oh Luce. Hast du die Nachrichten gesehen? Ich weiß nicht,

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