Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Skifahrer … Schade, dass du nicht mitkommen konntest! Inzwischen stand ich bei niemandem mehr auf der Adressliste für die Urlaubs- oder Weihnachtspost. Wie soll man auch mit jemandem Kontakt halten, der auf die Frage » Und was gibt’s bei dir Neues?« immer nur mit » Nichts« antwortet?
Die Fliege schwirrte an mir vorbei und zum offenen Fenster hinaus. Stimmte es, was Mum gesagt hatte? Gab ich ihr die Schuld an meinen Fehlern? In mir stieg ein Gefühl auf, das ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gespürt hatte– jener Leichtsinn, der aus Frust, Erschöpfung und Überdruss entsteht. Normalerweise erlaubte ich mir Gefühlsausbrüche eher selten, sodass mich die Intensität dieser Empfindung ziemlich überrumpelte.
Auf dem Treppenabsatz knarrten die Dielen. Ich erstarrte und wartete ab, bis sich Mums Schlafzimmertür geschlossen hatte. Sie tauchte ebenfalls ab. Unsere stillschweigende Übereinkunft war, uns nach einem Streit für ein paar Tage aus dem Weg zu gehen. Damit war zwar nichts geklärt oder vergessen, aber die Zeit verging. Die Zeit verging, und es war kein Ende in Sicht.
Ich setzte mich auf die Bettkante und dachte über alles Mögliche nach, über Charlie, Jenny, Dad und die anderen, kam jedoch zu keinem rechten Entschluss– abgesehen davon, dass etwas passieren musste, und zwar bald. Ich fragte mich, was ich eigentlich wollte. Ich schaute den Wolken nach und ließ meine Gedanken schweifen, bis mir schließlich klar wurde, wonach ich mich sehnte. Dieser Gedanke ließ mich nicht mehr los, kreiste er doch um etwas, das in greifbarer Nähe war, falls ich die Zeichen nicht gänzlich falsch gedeutet hatte. Ich fahndete nach meinem Handy, suchte die Nummer heraus und schickte eine SMS, ohne zu lange darüber nachzudenken, was ich eigentlich vorhatte. Die Antwort kam prompt und hieß kurz und knapp: Ja.
Es wurde schon dämmerig, als ich aus meinem Zimmer ins Bad schlich, wo ich mich aus meinen Sachen schälte und die Dusche voll aufdrehte. Entschlossen stellte ich mich unter den noch kalten Strahl, neigte den Kopf nach hinten und ließ das Wasser eine ganze Weile einfach über mich hinwegströmen. Ich wusch mein Haar ganz langsam, sorgfältig und bedächtig, bis es vor Sauberkeit quietschte, während das Wasser immer noch über mich hinweglief und meine Haut schon prickelte. Als ich fertig war, wickelte ich mir ein Handtuch um den Kopf und massierte Lotion in jeden Quadratzentimeter meines Körpers, bis ich rundum seidig schimmerte.
Dann ging ich zurück in mein Zimmer, wo ich mir ein zartes Nichts aus schwarzer Chiffonunterwäsche überstreifte, die ich mir vor einer halben Ewigkeit nur auf Drängen einer Freundin in Paris gekauft und noch nie getragen hatte. Es hatte ja auch keinen Grund gegeben. Seit Ben war da niemand mehr gewesen, der sie hätte sehen können. Doch ich wollte nicht mehr an Ben denken, und jetzt war erst recht kein guter Zeitpunkt, damit anzufangen.
Im hintersten Winkel der Kommode fand ich ein eng anliegendes schwarzes Oberteil mit tiefem Ausschnitt. Ich zog es an und dazu meine Lieblingsjeans, die zwar nicht mehr die neueste, dafür aber weich wie Wildleder war. Flache Sandalen und ein breiter Armreif waren das letzte i-Tüpfelchen. Ich wollte gut aussehen, ohne bemüht zu wirken, und betrachtete das Resultat zufrieden im Spiegel, ehe ich mich dem Thema Frisur zuwandte. Nach dem Föhnen kämmte ich einfach alles Haar zurück und steckte es zu einem tief sitzenden Knoten am Hinterkopf zusammen. Links und rechts von meinem Gesicht kringelten sich ein paar Strähnchen, die ich hängen ließ. Durch die Föhnwärme hatten meine Wangen Farbe bekommen, aber auch innerlich fühlte ich mich befeuert von Entschlossenheit und Verlangen.
Beim Schminken ließ ich mir Zeit. Mit dunklem Eyeliner und Wimperntusche betonte ich meine Augen, damit sie möglichst groß wirkten, und tupfte mir nur ein wenig Lipgloss auf die Lippen. Im Spiegel war mein Blick gelassen, aber aufmerksam. Sogar ich fand, dass ich verändert aussah– wie jemand, der ich schon lange nicht mehr gewesen war. Ich sah aus wie jemand, der ich schon immer hätte sein sollen, und nicht wie der Schatten meiner selbst, zu dem ich geworden war.
Als ich mein Werk vollendet hatte, war es schon nach zehn. Ich griff meine Tasche und rannte die Treppe hinunter. Ich dachte gar nicht daran, leise zu sein, sondern knallte die Eingangstür zu in der kindischen Hoffnung, dass Mum es gehört hatte und sich fragte, wohin ich um diese Zeit
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