Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
ging und warum.
Als ich mein Auto abstellte, war ich so aufgeregt, dass sich mein Mund ganz trocken anfühlte. Ich gab mir Mühe, die leise Stimme in meinem Kopf zu überhören, die mir einreden wollte, dass ich mich gleich zum Trottel und er bestimmt einen Rückzieher machen würde. Eigentlich konnte er gar nicht anders, sagte mir diese Stimme. Was ich vorhatte, war in mehrerlei Hinsicht reichlich idiotisch. Ich stieg aus, betrat entschlossenen Schrittes das Gebäude und fuhr mit dem Lift bis ins Dachgeschoss, als sei es das Normalste auf der Welt. Dann stand ich vor seiner Tür und hörte die leise Musik, die durch sie hindurchdrang. Ich klopfte sacht und schloss für einen Moment die Augen. Mein Herz flatterte wie ein gefangener Vogel.
Als Blake die Tür öffnete, begegneten sich unsere Blicke, und ich fühlte mich wie vom Schlag getroffen. Er war barfuß, in Jeans und T-Shirt, und sein Haar sah ein wenig zerzaust aus, so als hätte er gerade geschlafen. Einen endlosen Augenblick lang ruhte sein stoischer Blick auf mir, ehe er lächelnd zur Seite trat.
» Kommen Sie rein.«
» Danke.«
Ich ging an ihm vorbei in den Flur, wo ich meine Tasche auf dem Fußboden abstellte, ehe ich weiterging. Rechts von mir befand sich ein offener Wohnbereich mit Kochnische und angenehmer Beleuchtung. Bodentiefe Fenster ohne Gardinen gingen auf einen Balkon hinaus, der so lang war wie das Zimmer. Bei Tageslicht hatte man von hier aus vermutlich einen erstklassigen Ausblick auf den Fluss. Der Raum wirkte unverkennbar maskulin und funktional. An den cremefarbenen Wänden hingen keine Bilder, und die Möblierung war ausgesprochen sparsam: ein riesiges braunes Sofa, ein Esstisch mit Stühlen, eine gigantische Musikanlage und Regale mit Platten und CDs. Bücher gab es ebenfalls, und ich schlenderte hinüber, um nachzusehen, ob ich etwas von seiner Lektüre kannte. Es war ausschließlich Sachliteratur– Geschichte, Biografien, sogar Politik war dabei. Ich lächelte in mich hinein. Blake war offensichtlich ein Mann, der großen Wert auf Fakten legte. Kein Wunder, dass er so in seinem Job aufging. Die Küche wirkte makellos, und ich fragte mich, ob er jemals etwas darin gekocht hatte.
» Schlafzimmer und Bad sind auf der anderen Seite«, erklärte er aus dem Flur, von wo aus er mich beobachtete. Was auch immer er denken mochte, verbarg er hinter seiner typischen Selbstbeherrschung. Eine Metalljalousie hätte mich kaum wirksamer von ihm abgeschottet.
» Wirklich schön.« Ich durchquerte den Raum und ging zurück zu ihm in den Flur. » Ihre Eltern waren wirklich großzügig.«
» Ja, in dieser Richtung kann ich meinem Vater echt nichts vorwerfen«, bestätigte er grinsend. » In finanziellen Dingen war er nie knauserig. Seelische Unterstützung war Mangelware, aber Geld spielte keine Rolle.«
» Sie Glücklicher.«
» Wenn Sie meinen.« Er schaute um sich, als sähe er die Wohnung zum ersten Mal. » Tja, das ist es also. Mein Erbe. Eher ein Anlageobjekt als ein Zuhause.«
Es wirkte in der Tat alles recht unpersönlich, wie eine Art Bühnenbild oder eine Hotelsuite. Offenbar lebte Blake in dem Bewusstsein, jederzeit versetzt werden zu können.
» Sieht sehr aufgeräumt aus.«
Er zuckte die Schultern. » Ich mag es ordentlich. Außerdem bin ich viel zu selten hier, um Unordnung zu stiften.«
» Da habe ich ja Glück, dass Sie heute da sind«, sagte ich beiläufig. » Eigentlich hatte ich ja mit einer Absage gerechnet, weil Sie zu tun haben.«
» Vickers hat mir heute Abend freigegeben. Er meinte, dass es nichts bringt, wenn ich vor Müdigkeit nicht mehr denken kann.«
» Sie sehen aber auch wirklich müde aus.«
» Na schönen Dank auch.« Er ging ein paar Schritte in Richtung Wohnzimmer. » Wollen Sie sich eigentlich nur die Wohnung ansehen, oder kann ich Ihnen auch etwas zu trinken anbieten?«
Ich schüttelte den Kopf. » Ich bin nicht zum Trinken hergekommen.«
» Verstehe. Dann sehnen Sie sich also hauptsächlich nach einem guten Gespräch.«
» So würde ich das auch nicht ausdrücken.«
Zu dem Zeitpunkt standen wir ein paar Schritte voneinander entfernt. Ich ging bis auf Reichweite zu ihm hin. Die Luft zwischen uns schien zu knistern. Ich trat noch einen Schritt näher, so nahe, dass ich seine Körperwärme durch den dünnen Stoff seines T-Shirts spüren konnte, und wartete darauf, dass er etwas tat, während mein Blick sich in seinen verhakt hatte. Gemächlich ließ er seine Fingerspitzen von meinem Hals bis hinunter
Weitere Kostenlose Bücher