Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
aufzustehen und geriet erneut in Panik. Doch er drückte mich wieder zu Boden.
» Bleib unten«, befahl es hinter mir, als wäre ich ein Hund. Seine Stimme war allenfalls ein Flüstern, nicht identifizierbar und furchteinflößend. Ich hatte keine Ambitionen, ungehorsam zu sein. Dann konnte ich eher fühlen als hören, wie er abzog. Nur ein kleines scharrendes Geräusch verriet, dass er kurz stehenblieb, um etwas aufzuheben. Unter meiner Wange tickte meine Armbanduhr: zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, eine Minute. Es war nichts mehr von ihm zu hören. Zitternd blieb ich liegen, bis ich keinen Zweifel mehr hatte, dass er weg war. Dennoch war es die größte Mutprobe meines Lebens, als ich mich schließlich aufrichtete und umsah. Das Gefühl der Erleichterung, das sich gerade in mir breitmachen wollte, wurde fast augenblicklich von Entsetzen erstickt. Der Angreifer war zwar weg, aber meine Tasche ebenfalls.
Sicher war es einfältig, viel Aufhebens wegen einer Handtasche zu machen, wenn man nur wenige Minuten zuvor noch Angst um sein Leben gehabt hatte. Aber die Feststellung, dass meine Tasche verschwunden war, machte mich wütend– ja, mehr als das: Es machte mich rasend. Mein gesamtes Leben war in dieser Tasche, nicht nur ersetzbare Dinge wie EC- und Kreditkarten. Ich hatte Fotos von meinen Eltern und meinem Bruder darin, mein kleines Tagebuch und ein Notizbuch, in das ich meine Listen kritzelte. Es war vollgestopft mit Visitenkarten, Zetteln mit Telefonnnummern und Adressen und anderen wichtigen Informationen, die jetzt unwiederbringlich verloren waren. Hausschlüssel und Autoschlüssel: alles weg. Dabei war nicht einmal etwas besonders Wertvolles in der Tasche gewesen. Mein Handy war alt, zerschrammt und im Prinzip wertlos. Das hätte ich ihm sagen können, wenn er die Tasche von mir verlangt hätte. Ich hätte ihm das Bargeld und die Bankkarten gegeben und ihm viel Spaß damit gewünscht. Für seine Gewalttätigkeit hatte es nicht den geringsten Grund gegeben. Aber ich wurde den Gedanken nicht los, dass es ihm gefallen hatte, mich anzufassen– mir wehzutun–, und dass ihm die Idee mit meiner Tasche erst danach gekommen war. Bei der Erinnerung an seine Hände auf meinem Körper brannte mein Gesicht: Ich fühlte mich schmutzig.
Ganz langsam und unter großen Schmerzen zog ich mich hoch auf die Füße. Der Horizont schaukelte wie verrückt hin und her, und ich musste die Augen schließen und mich an den Zweigen festhalten, damit ich nicht wieder nach vorn umfiel. Natürlich war mir klar, dass es mit ein wenig Warten besser werden würde, aber ich konnte nicht warten. Was, wenn er zurückkam? Ich zwang mich, den Strauch loszulassen und auf das Haus zuzugehen, wo ich torkelnd wie eine Betrunkene ankam. Nicht besonders elegant, aber immerhin war ich da. Kraftlos klammerte ich mich am Mauerwerk fest und überlegte, ob es einen Funken Hoffnung gab, dass Mum wach war. Das Wohnzimmerfenster befand sich gleich neben mir, die Vorhänge waren nicht ganz zugezogen. Bläuliches Licht drang hindurch: Der Fernseher lief also. Ich schob mich an der Wand entlang und lugte nach drinnen. Mum lag lang ausgestreckt auf dem Sofa, ihr Gesicht wirkte im Flimmerlicht des Fernsehers graublau. Sie war völlig weggetreten. Auf dem Couchtisch stand ein leeres Glas. Ich klopfte sacht ans Fenster, überzeugt, dass es zwecklos war, und hoffend, dass ich mich irrte. Nicht die kleinste Bewegung.
Ich stand einen Moment da und versuchte zu überlegen, was ich tun konnte. Ganz langsam sah ich mich um. Hatte ich denn nicht nach meinem Hausschlüssel gesucht? Und hatte ich ihn nicht gerade gefunden, als ich durch die Pforte trat und der Schatten zu bösartigem Leben erwachte? Gebückt ging ich das Wegstück ab, die Augen auf den Boden geheftet, und wurde tatsächlich mit einem metallischen Blinken unter den Sträuchern belohnt, genau an der Stelle, wo mir der Schlüssel aus der Hand gefallen war. Ein Fuß, seiner oder meiner, hatte ihn in die weiche Erde hineingetreten, und nur der glänzende Schlüsselanhänger war noch zu sehen. Mit einem Hauch von Siegerstolz wischte ich die Erde davon ab. Wenigstens den hatte er nicht bekommen, auch wenn er mir so viel anderes gestohlen hatte.
Ich schleppte mich wieder zum Hauseingang und schob den Schlüssel ins Schloss. Mein Knie tat jetzt rasend weh. Als ich in den Flur hinkte und die Haustür hinter mir schloss, fiel ich beinahe hin. Aber bevor ich mich um etwas anderes kümmmerte, verriegelte ich die Tür
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