Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing
Spiegel gleich neben der Tür. Ich machte mich auf alles gefasst und nahm für einen endlosen, fassungslosen Moment mein Spiegelbild in Augenschein: den Dreck in den Haaren und im Gesicht, das Make-up, das über die Wangen verschmiert war, den Fleck auf dem Wangenknochen, wo er mein Gesicht gnadenlos auf den Boden gedrückt hatte.
Dann schaltete ich das Licht aus und ging schlafen.
1992
Seit vier Wochen vermisst
Ich stehe neben Mum, die unschlüssig die Dosentomaten betrachtet. Die Reihe ist endlos lang, es gibt unterschiedliche Marken und Tomatensorten. Ich weiß nicht, welche wir nehmen sollen, und Mum offenbar auch nicht. Sie steht einfach nur da und schaut sich die Etiketten an. Es ist unser erster Einkauf im Supermarkt, seit Charlie verschwunden ist. Früher hatten wir dabei immer ein festes Ritual. Charlie schob den Einkaufswagen, Mum wählte die Sachen aus, und ich tat sie in den Wagen. Nach dem Einkaufen gingen wir noch in das kleine Café gegenüber, wo wir ein Rosinenbrötchen aßen und etwas tranken. Mum bestellte sich immer eine Tasse Kaffee. Der schmeckt mir zwar überhaupt nicht, aber er riecht so gut. Ich mochte es sehr gern, in diesem Café zu sitzen und die Leute zu beobachten, die im Supermarkt gegenüber ein und aus gehen.
Doch heute funktioniert unser Ritual überhaupt nicht. Ich lege Dinge in den Wagen und renne dann um ihn herum, um ihn weiterzuschieben. Aber Mum kriegt überhaupt nichts mit. An den Lebensmitteln, die wir normalerweise kaufen, geht sie vorbei und packt dafür lauter Zeug in den Wagen, das wir sonst nie essen: Tiefkühlpizza, Brathähnchen in einem fettigen Folienbeutel, ein Netz Limetten, eingeschweißte Wiener, die aussehen wie schweißige Finger. Ich traue mich nicht, etwas zu sagen. Sie ist heute sehr schweigsam und mit ihren Gedanken ganz woanders. Aber das ist mir lieber als ihre Schimpflaune, wenn ich Angst habe, sie anzusprechen.
Ich stehe neben ihr und halte mich an ihrem Rock fest– nur ganz leicht, dass sie es gar nicht merkt– und tue so, als wäre alles wie immer. Charlie ist nur um die Ecke. Gleich wird er mit einer Packung Frühstücksflocken auftauchen, und Mum wird ihn zurechtweisen, weil er die mit Schokoüberzug genommen hat. Danach gehen wir hinüber ins Café, trinken etwas, lachen über alberne Witze und beobachten die Leute.
Eine dicke Frau kommt uns vom anderen Ende des Ganges entgegen. Sie ist ganz rot im Gesicht, und ihr Einkaufswagen ist vollbeladen. Als sie uns sieht, bleibt sie stehen und starrt uns an. Ich starre zurück und frage mich, was sie wohl von uns will. Mum ist immer noch in die Tomatendosen vertieft, sodass sie weder die Frau noch ihren komischen Gesichtsausdruck bemerkt. Die Frau zieht ihren Wagen ein Stück zurück und schaut um die Ecke, wo sie mit jemandem tuschelt, den ich noch nicht sehen kann. Kurz darauf taucht eine zweite Frau auf, die klein und dünn ist und ebenfalls einen Wagen vor sich her schiebt. Sie steht jetzt neben der Dicken, und beide zusammen geben ein ulkiges Bild ab– dick und dünn, beide mit der gleichen Miene: überrascht, neugierig und voller Ablehnung. Mit ihren Einkaufswagen versperren sie den gesamten Gang und ich frage mich, wie wir an ihnen vorbeikommen sollen. Sie flüstern miteinander, während sie uns nach wie vor mustern. Ich begreife, dass sie uns erkannt haben, denn ich höre Satzfetzen wie » der arme Junge« und » selbst schuld«. Mum muss es ebenfalls gehört haben, denn sie schreckt auf, als wäre sie gerade aufgewacht. Sie schaut die beiden kurz an, und ich beobachte ihr Gesicht. Sie presst die Lippen aufeinander und sieht wütend aus.
» Komm«, sagt sie zu mir, packt den Wagen und wendet ihn geschickt, sodass wir den Rückzug antreten können. Ihre Absätze klappern auf dem Fußboden, klack klack klack, und ich renne ihr hinterher in den nächsten Gang, wo wir nirgends haltmachen, und in den übernächsten, wo Mum nur hastig ein Glas löslichen Kaffee in den Wagen wirft. Ich bin froh, dass wir die Frauen los sind, aber ich merke, dass Mum ganz außer sich ist. Ich laufe hinter ihr her und muss ab und zu rennen, um Schritt zu halten. Die bunten Farben der Verpackungen in den Regalen verschwimmen vor meinen Augen, als wir durch die letzten Gänge mit Putzmitteln und Kosmetik hasten und schließlich leicht außer Atem an der Kasse ankommen.
Die Kassiererin grüßt lächelnd, ohne uns wirklich anzusehen. Sie zieht unsere Einkäufe über den Scanner und schiebt sie dann auf die
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