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Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing

Titel: Die Vermissten - Casey, J: Vermissten - The Missing Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jane Casey
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Tür ein Schlurfgeräusch zu hören, doch niemand öffnete. Ich klopfte erneut mit demselben Ergebnis und beugte mich schließlich zum Briefschlitz hinunter.
    » Hallo… Hier ist Sarah. Sarah von gegenüber. Tut mir leid, wenn ich störe. Ich … Ich möchte nur kurz mit Danny sprechen, falls es passt…«
    Als ich Dannys Namen nannte, ging die Tür plötzlich auf und gab den Blick auf einen Flur frei, in dem sich Pappkartons und nicht identifizierbare Maschinenteile stapelten. Es sah ziemlich chaotisch aus und alles andere als sauber. Hinter der Tür tauchte ein fettiger Haarschopf und ein kleines misstrauisches Auge auf.
    » Hallo«, versuchte ich es nochmals. » Ich bin Sarah.«
    Der Haarschopf antwortete nicht.
    » Ähm… Bist du vielleicht Paul?«
    » So isses«, antwortete der Schopf und nickte erwartungsvoll.
    » Ich wohne auf der anderen Straßenseite«, erklärte ich und deutete auf unser Haus. » Ich… Also ich kannte mal deinen Bruder.«
    » Ich weiß, wer Sie sind«, kam mir Paul zuvor.
    Ich hatte mit meiner Erklärung fortfahren wollen, hielt jedoch verblüfft inne. In Pauls Tonfall lag etwas, das mich überraschte. Er hörte sich zwar träge und monoton an, aber andererseits auch sehr gewichtig. Das brachte mich aus dem Konzept.
    » Oh, prima«, antwortete ich unsicher. » Aber kennen tun wir uns noch nicht, oder?«
    Eine Schulter tauchte auf, offensichtlich, um ein Zucken zu anzuzeigen.
    » Nett, dich kennen zu lernen, Paul. Ist Danny zu Hause?«
    » Der ist auf Arbeit«, entgegnete Paul langsam, in leicht anmaßendem Ton. Blöd von mir. Logisch, es war ja erst früher Nachmittag, wo normale Leute arbeiten mussten. Ich selbst hatte ja nur deshalb frei, weil die Schule geschlossen war. Aber das lieferte mir meine nächste Frage.
    » Was machst du denn eigentlich zu Hause? Müsstest du nicht in der Schule sein?«
    Ich war unversehens in meinen Lehrerton verfallen und erntete ein freches Grinsen dafür.
    » Schule hat sich für mich erledigt.«
    Ich muss recht ratlos ausgesehen haben, denn der Junge öffnete nun vollständig die Tür und kam dahinter hervorgeschlurft. Er war übergewichtig – nicht nur ein bisschen dick, sondern richtiggehend fett. Obwohl er für sein Alter zu groß war, sah er dadurch keinesfalls proportionierter aus. Gewaltige Fleischwülste hingen an seinen Armen herab, die an den Handgelenken Falten warfen. Sein Oberkörper war von Speckringen umgeben, die unter einem zeltförmigen T-Shirt waberten. Er trug eine schmuddelige Trainingshose, und seine geschwollenen, unförmigen Füße waren nackt. Seine viel zu langen und schartigen Zehennägel waren gelblich, die Haut darunter blaugrau verfärbt, was auf eine schlechte Durchblutung hindeutete. Sein Körper war viel zu stark belastet, um noch richtig zu funktionieren. Ich zwang mich, meinen Blick davon abzuwenden und schaute ihm wieder ins Gesicht. Seine Miene wirkte trotzig und auch ein wenig gekränkt.
    » Die haben mich fertiggemacht«, erklärte er. » Hab jetzt Heimunterricht.«
    » Ah, verstehe«, antwortete ich, obwohl ich den Eindruck hatte, dass es nicht einfach war, allein in einem solchen Zuhause zu lernen. » Und wie gefällt es dir?«
    Der Junge zuckte die Schultern.
    » Ist schon okay«, meinte er. » Mein IQ ist Spitze. Schule war sowieso ätzend.«
    » Schön. Das ist wirklich prima.« Ich lächelte. » Tja also, ich wollte ja eigentlich mit Danny sprechen. Weißt du, wann er wiederkommt?«
    » Nee. Der kommt, wann er kommt.«
    » Aha.« Ich trat den Rückzug an. » Es war schön, dich kennen zu lernen, Paul. Ich komme einfach später noch mal wieder wegen Danny. Du kannst ihm ja sagen, dass ich hier war.«
    Paul sah enttäuscht aus. » Wollen Sie denn nicht reinkommen?«
    Ich hatte nicht vor, das Haus zu betreten. Paul würde mir sowieso nichts über Charlie sagen können, weswegen ich ja gekommen war. Ich wusste weder, wann Danny zurückkam, noch ob ich es überhaupt fertigbringen würde, mit ihm zu reden. Und außerdem war das Haus unglaublich verdreckt. Aber andererseits war Paul ganz offensichtlich einsam. Wenn er nicht zur Schule ging und Danny den ganzen Tag arbeitete, waren seine Kontakte zur Außenwelt vermutlich minimal. Ich hatte ihn noch nie kommen oder gehen sehen– was freilich nicht viel zu sagen hatte, denn ich war eher zu ungewöhnlichen Zeiten zu Hause und bekam auch dann kaum etwas mit. Doch ich hatte den Verdacht, dass Paul nur sehr selten das Haus verließ. Wie alt mochte er sein? Zwölf? Zu

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